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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure
Autoren: Michael Wilcke
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Äpfeln stehlen wollte. Der Scharfrichter hatte ihm daraufhin das rechte Ohr abgeschnitten. Thea hatte sich danach um Julius gekümmert und ihn in seinem Quartier gepflegt. Zwar war ihm kein Wort des Dankes über die Lippen gekommen, trotzdem hatte sie es gerne getan. Julius teilte ein ähnliches Schicksal wie sie. Auch er hatte früh die Eltern verloren und war nun auf sich allein gestellt. Leider aber erwies er sich im Gegensatz zu ihr als ein uneinsichtiger Dummkopf. Sein Hang zu Diebstählen hatte ihn bereits das Ohr gekostet, und allem Anschein nach hatte er nichts aus diesen Schmerzen gelernt.
    Von der Junkersstraße aus erreichte sie durch verschlungene Gassen und Durchgänge das Zeisigbauer, einen Platz, an dem sich das niederste Gesindel der Stadt zusammenrottete. Hier hielten sich Diebe, Herumtreiber und Huren auf, dazu Landsknechte, Abenteurer und Mörder. Sie verkrochen sich in die Bettlerherbergen, Freudenhäuser und Kellerlöcher, waren am Tage kaum auszumachen und verwandelten diesen Ort nach Einbruch der Nacht in eine gefährliche Gegend für jeden unkundigen, unbewaffneten Besucher, der sich hierher verirrte.
    Auch Thea lebte am Rand dieses Viertels, doch im Gegensatz zu der schlichten, aber sauberen Kammer, die sie im Obergeschoß des Hurenhauses bewohnte, war Julius’ Unterkunft nur ein dunkler, stickiger Keller mit einer schmutzigen Strohmatte als einzigem Inventar. Die Feuchtigkeit glitzerte an den Bruchsteinwänden, und ein ranziger Geruch machte einem das Atmen schwer. Zudem fiel kaum Tageslicht in diesen Verschlag.
    Es war immerhin hell genug, um zu erkennen, daß Julius auf seinem Lager hockte und feixend das Medaillon betrachtete, das er Martin Fellinger entwendet hatte. SeinKopf zuckte zur Seite, und er starrte Thea überrascht an, als er ihr Eintreten bemerkte.
    »Was willst du hier?« Seine Augen funkelten argwöhnisch.
    Thea machte einen Schritt auf ihn zu. »Tumber Nichtsnutz«, sagte sie und entriß ihm die Beute, ehe er reagieren konnte. Julius wollte nach dem Medaillon greifen, doch Thea schlug ihm mit der flachen Hand so hart ins Gesicht, daß er hinfiel.
    »Man hat dir bereits das Ohr abgeschnitten. Willst du auch noch deine Hand verlieren?« In ihrer Stimme schwang Wut über seine Unvernunft. »Hättest das Brot nehmen sollen, das er dir geben wollte.« Thea schloß die Finger um das Medaillon und hob die Faust vor Julius’ Gesicht. »Hiermit wirst dir nicht den Magen füllen können.«
    »Gib’s zurück!« verlangte er wütend.
    »Nein.«
    »Dann verdiene es dir.« Er stand auf, und sein Blick glitt unverhohlen über ihre Brüste und ihre Hüfte. »Laß mich zwischen deinen Beinen liegen.«
    Sie lachte spöttisch. Vor nicht allzu langer Zeit war sie für ihn noch wie eine große Schwester gewesen. Nun erwachte allmählich das Feuer in seinen Lenden – die Hitze, die Männer gefährlich wie Tiere werden ließ.
    Einen Moment lang standen sie sich lauernd gegenüber, dann wich sie schnell zurück, als er nach ihr schnappte. Julius war ein Hänfling, aber seine Wut und Erregung machten ihn unberechenbar.
    »Du wirst dir selbst Erleichterung verschaffen müssen«, rief sie. »Darfst dir aber dabei vorstellen, daß ich bei dir liege.« Thea lief nach draußen und drückte die Tür zu. Als sie einige Schritte gelaufen war, stellte sie erleichtert fest, daß Julius ihr nicht nachsetzte, sondern sie nur mit einigen bitteren Schimpfworten bedachte, die dumpf aus dem Keller zu ihr drangen.
    Thea begab sich in die Hurengasse, zog sich dort in ihre Kammer zurück und verriegelte die Tür. Als sie sich auf das Bett setzte, überfielen sie ein leichter Schwindel und ein Gefühl der Übelkeit. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Ihre Blutungen waren ausgeblieben, und sie zweifelte inzwischen nicht daran, daß wieder einmal ein Kind in ihr heranwuchs.
    Das Bild ihrer Mutter tauchte in ihrem Kopf auf. Die Mutter, der eine Hebamme ein totes Kind mit Haken und Zangen aus dem Leib zerrte.
    Diese trüben Gedanken schob Thea beiseite und nahm das silberne Medaillon in die Hand. Mochte es wertvoll sein? Die Frage war müßig, denn was bedeutete in diesen Zeiten der Not schon materieller Wert?
    Aus welchem Grund hatte sie es Julius überhaupt entrissen? Sie wußte keine Antwort darauf, außer vielleicht, daß es das Eigentum von Martin Fellinger war, der sich auch nach all den Jahren noch oft in ihre Gedanken stahl.
    Thea klappte das ovale Schmuckstück auf und betrachtete eine Weile das kleine
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