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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure
Autoren: Michael Wilcke
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katholischen Adler an, um ein geeintes protestantisches Reich zu erschaffen.
    Nun, nachdem die Schweden sich schon fast ein Jahr auf deutschem Boden befanden, fragte Martin sich häufig, wie sein Vater die momentane Kriegslage beurteilen würde. Die Intervention der Schweden hatte den bereits für beendet geglaubten Krieg bis vor die Tore Magdeburgs geführt, das sich neben der Stadt Stralsund zum einzigen deutschen Bundesgenossen Gustav Adolfs erklärt hatte.
    Schon seit Wochen trotzten die unterlegenen Kräfte innerhalb der Stadtmauern tapfer der Belagerung durch das katholische Heer. Die Armee des Generalissimus Tilly hatte Magdeburg von jeglicher Warenzufuhr abgeschnitten.Der Feind hoffte darauf, daß der Hunger die Verteidiger zur Kapitulation zwingen würde. Daher klangen die düsteren Prophezeiungen eines vermeintlichen Irren plötzlich wie die Worte eines Erleuchteten. Die Furcht vor einer gewaltsamen Erstürmung der Stadt lähmte die Bürger. Viele von ihnen verkrochen sich in ihre Häuser und flehten Gott an, seine schützende Hand über sie zu halten und die Feinde niederzustrecken, die doch schließlich einer falschen Lehre folgten.
    Martin indes glaubte noch immer daran, daß das schwedische Heer Magdeburg rechtzeitig entsetzen würde. Allein der Gedanke, daß Gustav Adolf die Elbestadt ohne weiteres dem katholischen Gegner opfern könnte, erschien ihm wie blanker Hohn. Immerhin hatte der Schwedenkönig den Obristen Dietrich von Falkenberg nach Magdeburg entsandt. Falkenberg, der als entschlossener Stratege galt, leitete die Verteidigung der Stadt und hatte verkündet, daß er keinen Gedanken daran verschwendete, Magdeburg in die Hände des katholischen Kaisers fallenzulassen.
    Martin erhob sich und verließ den Kirchhof. Es wurde Zeit, seinen Bruder Sebastian im Dom aufzusuchen.
    Kaum hatte er den stillen Kirchhof hinter sich gebracht und den Breiten Weg, die Hauptstraße Magdeburgs, betreten, da befand er sich bereits inmitten des von hektischer Betriebsamkeit geprägten Stadtlebens. Nachdem schon vor Wochen die Neustadt und die Vorstadt Suderburg auf Befehl Falkenbergs niedergebrannt worden waren, um dem katholischen Heer das Vorrücken an die Festungswälle zu erschweren, drängten sich in der Altstadt an die dreißigtausend Menschen zusammen – auf einem Raum, den sich zuvor nur die Hälfte von ihnen geteilt hatte.
    Die Bürger, die ihre Häuser verloren hatten, hielten sich zum größten Teil in der Nähe der zahlreichen Kirchen undKlöster auf. Überall bot sich Martin das gleiche bedrückende Bild. Hunderte Menschen ohne Obdach harrten in den Gotteshäusern und deren Umgebung aus. Ihre blassen Gesichter zeugten von Verzweiflung. Mit dem Verlust ihrer Unterkünfte waren sie von einem Tag zum anderen in die Armut gestürzt worden. Fast jeder von ihnen führte eine Unmenge an Gepäck mit sich. Alles, was sie tragen konnten, gleichgültig, ob es sich um Hausrat, Werkzeuge, Mobiliar oder Vieh handelte, hatten sie auf Handkarren herbeigeschleppt, um sich nach der Rückkehr in die Ruinen vielleicht eine neue, karge Existenz aufzubauen.
    In der Menge vermischte sich ein hektisches Stimmengewirr mit Kindergeschrei und Tierlauten. Nur wenige waren in der Lage, sich eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Die meisten der Leidgeprüften reihten sich in die langen Schlangen vor den Suppenküchen der Kirchen ein und nahmen dankbar die knapp bemessenen Rationen entgegen. Viele trösteten sich aber auch mit einem Krug Branntwein, so daß in den Straßen zuhauf Betrunkene über das Pflaster torkelten oder vor den Häusern zusammengebrochen waren.
    Immer wieder mußte Martin den heranpreschenden Wagen der Stadtwachen ausweichen, die Feuertöpfe aus Keramik, Pechkränze und Fallgranaten an den Verteidigungswall schafften. Ein Reiter im geschwärzten Harnisch rief Martin zu, den Weg frei zu machen. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, zur Seite zu springen und den Hufen des schnaubenden Schlachtrosses Platz zu machen.
    Händler sprachen ihn an und boten mit flinken Zungen ihre Waren feil. Der übliche Handel war seit dem Beginn der Belagerung zusammengebrochen. Die Bürger versuchten an Geld und vor allem an Nahrung zu gelangen, indem sie Kerzen, Schuhe, Geschirr oder völlig wertlosen Tand und Zierat verkauften.
    Martin ignorierte die Straßenhändler und schaute schnellzur Seite, sobald er bemerkte, daß ihn erneut einer von ihnen ins Auge gefaßt hatte. Trotzdem brachte er Verständnis für diese Leute auf. Auch
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