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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orths
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Prolog
    D rei Wochen lang habe ich keinen Fuß vor die Tür gesetzt, aus Angst, den Anruf zu verpassen. Ich habe allen, die mich kennen, verboten, sich bei mir zu melden. Nichts, habe ich gesagt, könne so wichtig sein, dass es nicht bis nach dem Anruf Zeit hätte. Als in der ersten Woche das Telefon schellte, früh am Morgen, stand ich unter der Dusche. Ich sprang, ohne den Duschvorhang wegzuziehen, hinaus, rutschte beinah aus und kam gerade noch rechtzeitig zum Telefon, kurz vorm Anspringen des Anrufbeantworters. Ich verstand nur das eine Wort Umfrage und knallte den Hörer zurück auf die Gabel. Zitternd vor Aufregung, nackt und tropfend saß ich auf der Couch. Fortan verzichtete ich auf das morgendliche Duschen. Ich beauftragte einen Nachbarn, mir ein schnurloses Telefon zu besorgen. Um vier Uhr morgens, zu einem Zeitpunkt, an dem die Anrufwahrscheinlichkeit gegen null tendiert, stöpselte ich das alte Telefon aus der Buchse und das neue ein. Dann befestigte ich eine Kordel am Hörer und knüpfte ihn mir um den Hals. So, dachte ich, kann nichts mehr schief gehen. Ich ließ mir das tägliche Essen von einem Restaurantservice bringen, und mit dem Telefon um den Hals konnte ich den Lieferanten gelassen die Wohnungstür öffnen. Dann saß ich in meiner Wohnung und wartete. Den Lautstärkeregler des Fernsehers stellte ich auf die kleinste noch wahrnehmbare Stufe. Fürs Lesen fehlte mir die Muße. Ich begann zu rauchen. Regelmäßig um vier Uhr morgens kontrollierte ich mit einem kurzen Druck auf die Abnahmetaste, ob die Leitung noch intakt war, und erst wenn ich das Freizeichen vernommen hatte, war an Schlaf zu denken. Ich erinnerte mich oft an die Horrorgeschichten, die man sich im Kurs über die wenigen Menschen erzählt hatte, die im Anrufzeitraum nicht erreichbar gewesen waren: eine tollkühne Verantwortungslosigkeit sich selbst und dem eigenen Leben gegenüber. Einer, hieß es, sei sogar während des Anrufzeitraums in Urlaub gefahren; ein anderer habe zwar den Anruf entgegengenommen, jedoch an einem Samstag um zehn Uhr abends, und jener offensichtlich nicht mehr seiner Sinne mächtige Mensch habe allen Ernstes geantwortet, nicht jetzt, es sei Wochenende, da habe er anderes vor, man solle ihn gefälligst am Montag wieder anrufen, und unser kompletter Kurs war in haltloses Lachen ausgebrochen, als der Koordinator diese Geschichte erzählt hatte. Ich malte mir aus, was geschähe, würde ich den Anruf verpassen: ein Leben unter Brücken, Nächte in einem Obdachlosenheim, Verzweiflung, Grauen, Kälte. Aber der Griff an mein vor der Brust baumelndes Telefon beruhigte mich, ich hatte mir nichts vorzuwerfen, ich war erreichbar , ständig, rund um die Uhr, von der einen Sekunde um vier Uhr morgens einmal abgesehen. Ich verwahrloste in diesen Wochen, verzichtete aufs Rasieren, warf mir morgens nur eine Hand voll Wasser ins Gesicht, bekam Ringe unter den Augen, weil ich viel zu wenig schlief und stattdessen durch die Wohnung tigerte. Und als nach drei Wochen endlich das Telefon schellte, war ich so erschrocken, dass ich beim ersten Läuten nichts tun konnte. Beim zweiten Läuten krampfte sich meine Hand um den Hörer, ich stellte aber fest, dass die Kordel, die mir um den Hals hing, zu kurz war, um den Hörer direkt ans Ohr zu führen, ich musste mir die Schnur erst wie eine Kette abstreifen, ehe ich die Taste drücken konnte, und das dritte Läuten verstrich, weil ich mich dabei verhedderte, dann aber hatte ich das Telefon am Ohr und krächzte: Ja? Es war meine Mutter. Ich war sprachlos. Sie erzählte mir irgendetwas, das nicht in mein Bewusstsein drang. Nach einigen Sekunden unterbrach ich sie. Ob sie wahnsinnig sei? rief ich. Wie könne sie anrufen, jetzt, um zehn Uhr zwanzig? Ob sie nicht wisse, dass zu dieser Zeit die Anrufwahrscheinlichkeit am höchsten sei? Ob sie nicht wisse, in welchem Zeitraum ich mich befände? Ich drückte sie weg. Zwanzig Sekunden waren verstrichen. Was, dachte ich, wenn der Koordinator gerade zum selben Zeitpunkt angerufen hatte wie meine Mutter? In jenen zwanzig Sekunden? Was, dachte ich, wenn er das Besetztzeichen gehört, sofort aufgelegt und den nächsten Kandidaten auf der Liste angerufen hatte? Ich verfluchte mich für meine Langsamkeit. Ich sagte mir, ich hätte die Leitung sofort kappen müssen, gleich, unmittelbar nach den ersten Worten meiner Mutter, unmittelbar nachdem sie gesagt hatte Ich bin es , hätte ich schon die Taste drücken und das Telefon wieder freigeben müssen, aber
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