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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure
Autoren: Michael Wilcke
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eres stets vermieden, einen der Türme zu besteigen oder auch nur einen Blick über die Stadtmauer zu werfen. Er hatte nie den Drang verspürt, die Armee, die das Leben seiner Familie bedrohte, in Augenschein zu nehmen.
    Nun aber war die Zeit gekommen, sich der Bedrohung zu stellen. Der Gefahr einer geladenen Pistole konnte man nicht entgehen, indem man ihr den Rücken zukehrte.
    Martin glaubte, er sei auf diesen Augenblick vorbereitet, doch als sie die Steintreppe zur Dachgalerie hinaufgestiegen waren und ins Freie traten, krampfte sich sein ganzer Körper zusammen.
    Es war die gewaltigste Streitmacht, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte.
    Gebannt hatte er als Kind den Erzählungen gelauscht, die von der großen Belagerung berichteten, der Magdeburg in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ausgesetzt gewesen war. Ihre Vorväter hatten die Religionsfreiheit der Stadt nach einem Jahr blutiger Kämpfe gegen die mit der Exekution der Reichsacht beauftragten Truppen behauptet und dem Kaiser einen ehrenvollen Frieden abgetrotzt. Fortan wurde Magdeburg im gesamten Reich als
Unseres Herrgotts Kanzlei
bezeichnet.
    Oftmals hatte Martin sich in seiner Phantasie ausgemalt, wie es sein mußte, von der Stadtmauer aus auf ein mächtiges Belagerungsheer zu blicken. Nun aber wurde ihm klar, daß seine Vorstellungskraft nicht ausgereicht hatte, um einen solchen Aufmarsch in seinem ganzen Ausmaß auch nur annähernd zu begreifen.
    Die Kaiserlichen hielten das gesamte Umland besetzt. Die Stadt wurde von Schanzgräben umschlossen, in denen die Söldner geduckt umherhuschten. Über den Gräben schwelte der Pulverdampf der Geschützbatterien wie unheilvoller Nebel. Martin schaute von hier aus über die breite Elbe zur Zollschanze, dem stärksten der befestigten Außenwerke, das im vergangenen Monat in die Hände derKaiserlichen gefallen war. Beim Rückzug in die Altstadt hatten die Verteidiger ein Joch der Elbbrücke gekappt und damit den Verbindungsweg zur Stadt zerstört. Doch sie alle wurden damit zu Gefangenen in ihrer eigenen Stadt. Der katholische Heerführer hatte einen eisernen Belagerungsring um Magdeburg geschmiedet, die Fährverbindungen unterbrochen und der Stadt dadurch die Lebensgrundlage entzogen.
    In der Ferne machte Martin eines der Heerlager aus – eine eigene Stadt aus Zelten und windschiefen Hütten, bevölkert von Tausenden Landsknechten, die darauf hofften, mit reicher Beute für ihre Mühen entlohnt zu werden.
    Was mochten die Soldaten auf der anderen Seite der Elbe empfinden? Hatte sie die Zeit der Belagerung rasend und blutgierig gemacht, oder brachten sie den eingeschlossenen Magdeburgern gar Mitleid entgegen und verfluchten insgeheim die Heerführer, die sie in diese Lage gebracht hatten?
    »Verdammt sei dieser gottlose Tilly«, zischte Martin.
    »Gottlos?« Sebastian schüttelte den Kopf. »Es heißt, Tilly sei ein tiefgläubiger Mann, kein zynischer Opportunist wie dieser Wallenstein. Ist dir der Beiname bekannt, den ihm seine strenge persönliche Moral eingebracht hat?«
    »Der Mönch in Rüstung?«
    »Genau.«
    Martin verzog das Gesicht. »Wie kann man einen Menschen, der eine ganze Stadt dem Hungertod preisgibt, als tiefgläubigen Christen bezeichnen?«
    »Sein eigenes Heer verhungert doch ebenfalls. Sieh dich um! Man nimmt an, daß sich mehr kaiserliche Soldaten um Magdeburg herum aufhalten, als die Stadt Einwohner zählt. Das Umland kann schon lang nicht mehr den notwendigen Proviant für diesen Koloß aufbringen. Ich wage zu behaupten, daß es um die Kaiserlichen noch miserabler steht als um uns. Schließlich sind noch nicht alle Vorratslager in der Stadt aufgebraucht.«
    Martin trat die Galerie entlang und konnte nun die niedergebrannte Suderstadt überblicken. Zwischen den rußgeschwärzten Ruinen der Vorstadt tauchten vereinzelte zerlumpte Gestalten auf, die mehr wie Landstreicher denn wie Soldaten aussahen. Allem Anschein nach suchten sie in den Hauskellern nach Proviant. Dabei gerieten sie in die Reichweite der Magdeburger Musketiere, die von den Wällen aus das Feuer auf sie eröffneten und die Landsknechte mit Hohn und Spott bedachten, wenn es gelang, einem der Feinde eine Kugel durch den Leib zu schießen.
    »Wenn doch nur die Schweden endlich einträfen«, sagte Martin. »Gustav Adolf würde Tilly und sein ausgehungertes Lumpenpack in alle Himmelsrichtungen davonjagen.«
    »Der König wird nicht kommen.«
    Sebastians nüchterne Feststellung beunruhigte Martin. »Woher willst du das
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