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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen
Autoren: Manu Joseph
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1
Die Underdogfamilie
    Laut Mariamma Chacko gehört Ousep Chacko zu der Sorte Mann, die man töten muss, wenn die Geschichte zu Ende ist. Er weiß aber, dass sie sich dessen nicht immer ganz sicher ist. Vor allem morgens, wenn er am Schreibtisch sitzt, einen hohen Stapel Cartoons vor sich, die er genau studiert, um das einzige Rätsel zu lösen, das ihr am Herzen liegt. Zwar hat er nicht danach verlangt, doch sie bringt ihm trotzdem einen Becher Kaffee und stellt ihn etwas heftig auf den hölzernen Schreibtisch, um ihn an sein schändliches Benehmen in der vergangenen Nacht zu erinnern. Sie reißt die Fenster auf, leert seinen Aschenbecher und ordnet die Zeitungen auf dem Tisch. Wenn er dann endlich zur Arbeit aufbricht, wortlos die Wohnung verlässt und die Treppe hinuntergeht, steht sie an der Tür und blickt ihm nach.
    Unten läuft Ousep mit kurzen, schnellen Schritten über die Spielwiese zum Tor – über harte braune Erde, auf der vereinzelt ein paar Grashalme wachsen. Er sieht die anderen Männer, allesamt gute Ehemänner und gute Väter, mit geputzten schwarzen Schuhen und korrekten Hemden, die ihnen wegen der hohen Luftfeuchtigkeit bereits am Leib kleben. Alle halten ihre Helme in den Händen und tragen darin ihre unerhört kleinen, vegetarischen Lunchportionen zum Vespastand. Immer mehr Männer kommen aus den tunnelähnlichen Korridoren, die zu den Treppenaufgängen des Wohnblocks A führen, einem kargen, weißen, dreistöckigenGebäude. Ihre ordentlichen, vielversprechenden Gattinnen erscheinen jetzt in weißen Baumwollsaris auf den Balkonen und winken zum Abschied. Sie murmeln Gebete, lächeln den anderen Frauen zu und spähen mit einem Auge in die eigenen Sariblusen.
    Die Männer grüßen Ousep nie. Sie wenden sich ab oder interessieren sich plötzlich für den Erdboden oder putzen ihre Brillen. Doch für ihresgleichen hegen sie große Zuneigung. Es sind Gleichgesinnte, die durch bloßes Räuspern miteinander kommunizieren können.
    «Gorbatschow», sagt ein feingliedriger Mann.
    «Gorbatschow», erwidert der andere.
    Mit dieser erschöpfenden Analyse des
Hindu
-Leitartikels über Michail Gorbatschows Wahl zum Präsidenten der Sowjetunion gehen sie zu ihren Vespas. Vespafahren in Madras bedeutet, dass ein Mann verspricht, abends nicht betrunken nach Hause zu kommen. Echte Nachrichtenreporter wie Ousep Chacko betrachten es als Beleidigung, wenn man sie auf einer Vespa sieht, doch die Männer, die hier wohnen, sind fast alle Bankbeamten. Die Hände am Lenker stehen sie träge da und treten dann vehement den Kickstarter, als wollten sie den Motor aus dem Schlaf schrecken. Immer wieder treten sie das Pedal, manche springen geradezu in die Luft. Bis die Motoren endlich aufheulen und sie hintereinander zum Tor hinausfahren, wobei sie auf der Vorderkante der Sitzbank sitzen, als sei das preiswerter. Um sechs Uhr abends kehren sie auf demselben Weg zurück, mit Jasminblüten als Mitbringsel für ihre Frauen, die sie sich ins frisch gewaschene Haar stecken, sodass aphrodisischer Duft ihr Heim erfüllt und den Seelenfrieden ihrer bei ihnen wohnenden Schwiegerväter stört, alles alte Männer, die so ausgehungert nach Fleisch sind, dass sie Kinder und ausgewachsene Männer begrapschen und sich beim Damentennis im Fernsehen heimlich auf die Schenkel schlagen.
    An der Ausfahrt steht ein vorsichtig salutierender, dünner Wachmann in einer grotesken paramilitärischen Uniform, die sich im Wind bläht. Sein Widersacher Ousep nickt ihm zu, ohne ihn anzublicken – was ihm immer Respekt verschafft. Ousep dreht sich kurz nach den Frauen auf den Balkonen um, die alle so tun, als würden sie ihn nicht beachten. Auf seinem Balkon im dritten Stock steht niemand.
    Wenn er die Straße entlangläuft, ist er direkt im Blickfeld aller Balkone der vier identischen Häuser in der Balaji Lane, und alle Hausfrauen und reglosen Gespenster betrachten ihn mit sperrangelweit geöffneten Mündern. Morgens geht Ousep schnell und hält dabei den kleinen Finger ausgestreckt, als wolle er ein Signal empfangen. Durch die anderen Tore kommen noch mehr Vespas. Manche Fahrer starren ihn an, als sei der Blickkontakt mit ihm jetzt, da sie Helme tragen, weniger gefährlich – was in gewissem Sinne stimmt. Frauen verschwinden von den Balkonen und mümmeln ihre Gebete zu Ende, andere tauchen auf und widmen sich allen möglichen Dingen. Sobald sie ihn sehen, bleibt ihr Blick an ihm hängen, und sie fällen ein kurzes Urteil. Wenn man es recht bedenkt
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