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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure
Autoren: Michael Wilcke
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ERSTER TEIL
    Kapitel 1
    Martin Fellinger zuckte überrascht zusammen, als er die heisere Stimme vernahm. Gedankenverloren hatte er vor der Grabtafel gehockt, die Erde aus den Buchstaben der Inschrift gewischt und nicht bemerkt, daß jemand hinter ihn getreten war.
    »Lohnt nicht, den Dreck wegzukratzen, junger Herr. Nicht mehr lang, und der Staub der Hölle wird diese Stadt bedecken.« Ein nervöses Lachen schloß sich der düsteren Prophezeiung an.
    Martin wandte sich um und sah einen alten Mann in zerlumpter Kleidung vor sich. Die Haare des Mannes fielen weiß und strähnig bis auf die Schultern. Aus dem wettergegerbten, von roten Adern durchzogenen Gesicht funkelten hellgraue Augen, die allzu offensichtlich den Irrsinn des Alten verrieten. In seiner Hand hielt der Greis ein kleines Holzkruzifix, das er zum Himmel streckte, als hoffe er, Gott damit berühren zu können.
    »Der gütige Vater verschließt die Augen vor uns.«
    Auf den Straßen, in der Nähe der Kirchen oder unter den Laubengängen war Martin der Alte schon oft aufgefallen. Zumeist kniete er auf dem Pflaster, erflehte Almosen und stammelte zusammenhanglose Sätze, die in düsteren Schilderungen das Ende der Welt verkündeten. Die Bürger Magdeburgs hatten den seltsamen Kauz verlacht, doch in den vergangenen Wochen war ihr Lachen erstorben und hatte zunächst einem Ausdruck stiller Besorgnis, dann schierer Angst Platz bereitet.
    Aus der Ferne erklang Kanonendonner. Der Kopf des Irren drehte sich ruckartig in die Richtung der entferntenStadtwälle, wo ein Geschoß krachend in das Mauerwerk einschlug.
    »Ob die Toten das Getöse hören können?« Der Alte formte mit der Hand einen Trichter um sein Ohr und grinste aus einem zahnlosen Mund. »Tief unten in ihren Gräbern werden sie den Herrn lobpreisen, daß er sie mit einem frühen Tod vor dem Inferno bewahrt hat.«
    Martin ignorierte den Alten, der sich endlich entfernte und dabei einen Psalm summte. Abgesehen von zwei streunenden Hunden, befand er sich nun allein auf dem Kirchhof von Sankt Katharinen. Offensichtlich mieden die Menschen in Magdeburg die Ruhestätte der Toten mit Bedacht. In der Stunde der Not und des drohenden Unheils zogen sie es wohl vor, sich von den Lebenden ermutigen zu lassen.
    Er selbst kam oft hierher und suchte Trost am Grab seiner Eltern und seiner jüngeren Schwester. Wenn er mit der Hand über die in die Grabtafel gemeißelten Namen strich, kam es ihm vor, als wäre ein stummer, aber doch präsenter Teil von ihnen bei ihm geblieben.
    Es handelte sich um eine schlichte Ruhestätte. Als Magdeburg vor einigen Jahren von der Pest heimgesucht worden war, hatte Martins Vater darauf verzichtet, das Epitaph seiner der Seuche erlegenen Frau und Tochter mit dem Text der Leichenpredigt oder salbungsvollen Bibelzitaten schmücken zu lassen. Und als der Vater vor sieben Monaten an einer Entzündung in seinem Gedärm starb, hatten sie, seinem Wunsch entsprechend, einzig seinen Namen, das Geburts- und Todesjahr sowie sein Handwerk in die Tafel einmeißeln lassen.
     
    Lukas Fellinger. Glasmaler. 1579 –1630.
     
    Auch Martin war in der elterlichen Werkstatt in den Fertigkeiten des Glasmalens und der Kunstverglasung ausgebildet worden, obwohl es überlicherweise als Vorrecht desältesten Sohnes galt, das Handwerk des Vaters zu erlernen. Lukas Fellinger hatte jedoch früh erkannt, daß sich sein erstgeborener Sohn Sebastian vor allem zur Theologie hingezogen fühlte und den Geschäften der Familie nicht das geringste Interesse entgegenbrachte. Martin hingegen hatte schon als Kind bewiesen, daß ihm das künstlerische Geschick zu eigen war, dessen es bedurfte, um prachtvolle Szenen und Abbildungen in ein Fenster zu bannen und diese durch den Einfall von Licht zu besonderem Leben zu erwecken. Auch in vielen anderen Dingen hatte Martin dem Vater deutlich näher gestanden als sein Bruder. So hatten sie beide die Nachricht begrüßt, daß der schwedische König Gustav Adolf im Juni des vergangenen Jahres mit seiner Armee an der deutschen Küste gelandet war. Sebastian hingegen hatte diesen Tag oftmals laut verflucht.
    Martin hatte den Unmut seines Bruders damals nicht verstehen können. Der große Krieg, in dessen Verlauf das protestantische Heer der Dänen so jammervoll gegen die kaiserliche Armee versagt hatte, schien endlich die Wendung zu erhalten, die ihm von all den selbsternannten Propheten, Zeichendeutern und Auguren vorausgesagt worden war. Der Löwe aus dem Norden trat gegen den
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