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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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er sich auf einmal zu mir umgedreht und in einer Art Ausbruch geschrien hat: «Nein, ich kann Ihnen nicht glauben. Ich bin sicher, dass Sie sich manchmal ein anderes Leben gewünscht haben.» Ich habe geantwortet, dass ich das natürlich getan hätte, dass das aber nicht mehr bedeutete, als sich zu wünschen, reich zu sein, sehr schnell schwimmen zu können oder einen besser geformten Mund zu haben. Das läge auf der gleichen Linie. Aber er hat mich unterbrochen und wollte wissen, wie ich dieses andere Leben sähe. Da habe ich ihn angeschrien: «Ein Leben, in dem ich mich an dieses erinnern kann», und habe gleich hinzugefügt, dass es mir reichte. Er wollte noch weiter über Gott sprechen, aber ich bin auf ihn zugetreten und habe versucht, ihm ein letztes Mal zu erklären, dass mir wenig Zeit bliebe. Ich wollte sie nicht mit Gott verlieren. Er hat versucht, das Thema zu wechseln, indem er mich fragte, wieso ich ihn mit «Herr» und nicht mit «Vater» anredete. Das hat mich aufgeregt, und ich habe ihm geantwortet, er wäre nicht mein Vater: Er wäre auf der Seite der anderen.
    «Nein, mein Sohn», hat er gesagt und mir dabei die Hand auf die Schulter gelegt. «Ich bin auf Ihrer Seite. Aber Sie können es nicht wissen, weil Ihr Herz blind ist. Ich werde für Sie beten.»
    Da ist, ich weiß nicht warum, irgendetwas in mir geplatzt. Ich habe angefangen, aus vollem Hals zu brüllen, und habe ihn beschimpft und ihm gesagt, er sollte nicht beten. Ich hatte ihn beim Kragen seiner Soutane gepackt. Ich schüttete, abwechselnd vor Freude und vor Wut auftrumpfend, alles aus der Tiefe meines Herzens über ihm aus. Er schiene so gewiss zu sein, nicht wahr? Dabei wäre keine seiner Gewissheiten das Haar einer Frau wert. Er wäre ja nicht einmal sicher, am Leben zu sein, da er leben würde wie ein Toter. Ich schiene mit leeren Händen dazustehen. Aber ich wäre meiner sicher, aller Dinge sicher, sicherer als er, meines Lebens sicher und dieses Todes, der bald kommen würde. Ja, ich hätte nur das. Aber zumindest besäße ich diese Wahrheit, genauso wie sie mich besäße. Ich hätte recht gehabt, ich hätte noch recht, ich hätte immer recht. Ich hätte so gelebt, und ich hätte auch anders leben können. Ich hätte das eine getan, und ich hätte das andere nicht getan. Ich hätte die eine Sache nicht gemacht, während ich eine andere gemacht hätte. Na und? Es wäre so, als hätte ich die ganze Zeit hindurch auf diese Minute und auf dieses frühe Morgengrauen gewartet, in dem ich gerechtfertigt würde. Nichts, nichts wäre von Bedeutung, und ich wüsste genau, warum nicht. Er wüsste es auch. Aus der Tiefe meiner Zukunft stiege während dieses ganzen absurden Lebens, das ich geführt hätte, ein dunkler Atem zu mir auf, durch Jahre hindurch, die noch nicht gekommen wären, und dieser Atem machte auf seinem Weg all das gleich, was man mir in den genauso unwirklichen Jahren böte, die ich lebte. Was scherte mich der Tod der anderen, die Liebe einer Mutter, was scherte mich sein Gott, die Leben, die man wählt, die Bestimmungen, die man erwählt, da eine einzige Bestimmung mich erwählen sollte, mich und mit mir Milliarden von Privilegierten, die sich, wie er, meine Brüder nannten. Begriffe er denn nicht? Alle Welt wäre privilegiert. Es gäbe nur Privilegierte. Auch die anderen würden eines Tages verurteilt. Auch er würde verurteilt. Was machte es, wenn er, des Mordes angeklagt, hingerichtet würde, weil er bei der Beerdigung seiner Mutter nicht geweint hatte? Salamanos Hund wäre genauso viel wert wie dessen Frau. Die kleine Roboterfrau wäre genauso schuldig wie die Pariserin, die Masson geheiratet hatte, oder wie Marie, die gerne wollte, dass ich sie heiratete. Was machte es, dass Raymond genauso mein Freund wäre wie Céleste, der mehr taugte als er? Was machte es, dass Marie heute ihren Mund einem neuen Meursault darböte? Begriffe er denn nicht, dieser Verurteilte, und dass aus der Tiefe meiner Zukunft … Ich erstickte, während ich all das herausschrie. Aber schon riss man mir den Geistlichen aus den Händen, und die Wärter bedrohten mich. Er jedoch hat sie beschwichtigt und hat mich eine Weile schweigend angesehen. Seine Augen waren voller Tränen. Er hat sich abgewandt und ist verschwunden.
    Als er weg war, habe ich meine Ruhe wiedergefunden. Ich war erschöpft und habe mich auf meine Pritsche geworfen. Ich glaube, ich habe geschlafen, denn ich bin mit Sternen über dem Gesicht wach geworden. Landgeräusche stiegen zu
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