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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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gereizte Geste, aber er hat sich aufgerichtet und hat die Falten seiner Soutane zurechtgelegt. Als er fertig war, hat er sich mit der Anrede «mein Freund» an mich gewandt: Wenn er so mit mir spräche, dann nicht, weil ich zum Tode verurteilt war; seiner Ansicht nach wären wir alle zum Tode verurteilt. Aber ich habe ihn unterbrochen und sagte ihm, das wäre nicht dasselbe und das könnte im Übrigen keinesfalls ein Trost sein. «Gewiss», hat er zugestimmt. «Aber Sie werden später sterben, wenn Sie nicht heute sterben. Dann stellt sich dieselbe Frage. Wie werden Sie diese schreckliche Prüfung angehen?» Ich habe geantwortet, ich würde sie genauso angehen, wie ich sie in diesem Moment anginge.
    Er ist bei diesen Worten aufgestanden und hat mir gerade in die Augen gesehen. Das ist ein Spiel, das ich gut kannte. Ich machte es oft zum Spaß mit Emmanuel oder Céleste, und meistens wandten sie die Augen ab. Der Geistliche kannte dieses Spiel auch gut, das habe ich gleich begriffen: Sein Blick flackerte nicht. Und auch seine Stimme hat nicht gebebt, als er gesagt hat: «Haben Sie denn keine Hoffnung, und leben Sie mit dem Gedanken, dass Sie ganz und gar sterben werden?» – «Ja», habe ich geantwortet.
    Da hat er den Kopf gesenkt und sich wieder gesetzt. Er hat mir gesagt, er bedauerte mich. Er meinte, das wäre für einen Menschen unmöglich zu ertragen. Ich habe nur gespürt, dass er mich allmählich langweilte. Ich habe mich auch abgewandt und bin unter die Fensterluke gegangen. Ich lehnte mich mit der Schulter an die Wand. Ohne dem, was er sagte, richtig zu folgen, habe ich gehört, dass er wieder anfing, mich auszufragen. Er sprach mit unruhiger, eindringlicher Stimme. Mir ist klar geworden, dass er erregt war, und ich habe ihm genauer zugehört.
    Er teilte mir seine Gewissheit mit, dass mein Gnadengesuch angenommen würde, aber ich trüge die Last einer Sünde, von der ich mich befreien müsste. Seiner Ansicht nach wäre die Gerechtigkeit der Menschen nichts und die Gottes alles. Ich habe angemerkt, dass die erstere mich verurteilt hätte. Er hat erwidert, dass sie mich deswegen doch nicht von meiner Sünde reingewaschen hätte. Ich habe gesagt, ich wüsste nicht, was eine Sünde ist. Man hätte mir nur beigebracht, dass ich schuldig wäre. Ich wäre schuldig, ich bezahlte dafür, mehr könnte man nicht von mir verlangen. Da ist er wieder aufgestanden, und ich habe gedacht, wenn er sich in dieser so engen Zelle bewegen wollte, hätte er keine Wahl. Er müsste sich entweder setzen oder aufstehen.
    Ich starrte auf den Boden. Er hat einen Schritt auf mich zugemacht und ist stehen geblieben, als wagte er sich nicht näher heran. Er sah den Himmel durch die Gitterstäbe an. «Sie irren sich, mein Sohn», hat er gesagt, «man könnte mehr von Ihnen verlangen. Man wird es vielleicht von Ihnen verlangen.» – «Und das wäre?» – «Man könnte von Ihnen verlangen zu sehen.» – «Was zu sehen?»
    Der Priester hat sich ganz umgesehen und hat mit einer Stimme geantwortet, die mir plötzlich sehr müde erschien: «Aus all diesen Steinen sickert Schmerz, das weiß ich. Ich habe sie nie ohne Beklommenheit angeschaut. Aber tief im Herzen weiß ich, dass die Elendesten unter euch aus ihrer Finsternis ein göttliches Antlitz haben hervortreten sehen. Dieses Antlitz zu sehen, wird man von Ihnen verlangen.»
    Ich bin ein bisschen lebhafter geworden. Ich habe gesagt, ich hätte diese Mauern seit Monaten angesehen. Es gäbe niemanden und nichts auf der Welt, das ich besser kennen würde. Vielleicht hätte ich vor langer Zeit einmal ein Gesicht darin gesucht. Aber dieses Gesicht hätte die Farbe der Sonne und die Glut des Begehrens gehabt: Es wäre das von Marie. Ich hatte es vergebens gesucht. Jetzt wäre es vorbei. Und ich hätte jedenfalls nichts aus diesem Stein hervorsickern sehen.
    Der Geistliche hat mich mit einer Art Traurigkeit angesehen. Ich lehnte jetzt ganz an der Wand, und das Licht floss mir über die Stirn. Er hat ein paar Worte gesagt, die ich nicht verstand, und hat mich sehr schnell gefragt, ob ich ihm erlaubte, mich zu küssen. «Nein», habe ich geantwortet. Er hat sich umgedreht und ist zu der Wand gegangen, über die er langsam mit der Hand gestrichen hat: «Lieben Sie diese Erde denn so sehr?», hat er gemurmelt. Ich habe nichts geantwortet.
    Er ist ziemlich lange abgewandt stehen geblieben. Seine Anwesenheit bedrückte und reizte mich. Ich wollte gerade sagen, er sollte gehen, mich allein lassen, als
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