Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
Vom Netzwerk:
hätte das Übrige getan. Die Zeitungen sprachen oft von einem Tribut, den man der Gesellschaft schuldete. Ihnen zufolge musste man ihn bezahlen. Aber das spricht die Phantasie nicht an. Worauf es ankam, war eine Fluchtmöglichkeit, ein Sprung aus dem unerbittlichen Ritus heraus, ein wahnsinniger Lauf, der jede mögliche Hoffnung zuließ. Natürlich bestand die Hoffnung darin, an einer Straßenecke im vollen Lauf von einer Kugel im vollen Flug niedergestreckt zu werden. Aber alles wohl erwogen, erlaubte mir nichts diesen Luxus, alles verbot ihn mir, der Mechanismus erfasste mich wieder.
    Trotz meines guten Willens konnte ich mich mit dieser anmaßenden Gewissheit nicht abfinden. Denn schließlich bestand ein lächerliches Missverhältnis zwischen dem Urteil, das sie herbeigeführt hatte, und dem unerschütterlichen Ablauf von dem Moment an, als dieses Urteil verkündet worden war. Die Tatsache, dass das Urteil um zwanzig Uhr statt um siebzehn Uhr verlesen worden war, die Tatsache, dass es ganz anders hätte sein können, dass es von Menschen gefällt worden war, die das Hemd wechseln, dass es im Vertrauen auf einen so ungenauen Begriff wie das französische (oder deutsche oder chinesische) Volk erlassen worden war – dies alles schien mir einer solchen Entscheidung viel von ihrer Seriosität zu nehmen. Dennoch musste ich anerkennen, dass von der Sekunde an, in der sie gefällt worden war, ihre Auswirkungen so sicher und so ernst wurden wie das Vorhandensein dieser Wand, gegen die ich in ganzer Länge meinen Körper quetschte.
    Ich habe mich in solchen Momenten an eine Geschichte erinnert, die Mama mir von meinem Vater erzählte. Ich habe ihn nicht gekannt. Das einzig Zuverlässige, was ich über diesen Mann wusste, war vielleicht das, was Mama mir damals über ihn sagte: Er war als Zuschauer zur Hinrichtung eines Mörders gegangen. Er war krank bei dem Gedanken hinzugehen. Er hatte es trotzdem getan, und nach seiner Rückkehr hatte er sich fast den ganzen Vormittag übergeben. Mein Vater stieß mich damals etwas ab. Jetzt verstand ich, das war so natürlich. Wie hatte ich übersehen können, dass nichts wichtiger ist als eine Hinrichtung und dass es alles in allem das einzig wirklich Interessante für einen Menschen ist. Wenn ich je aus diesem Gefängnis herauskommen sollte, würde ich mir alle Hinrichtungen ansehen. Ich glaube, es war ein Fehler, an diese Möglichkeit zu denken. Denn bei der Vorstellung, eines frühen Morgens als freier Mann hinter einer Polizeikette zu stehen, gewissermaßen auf der anderen Seite, bei der Vorstellung, der Zuschauer zu sein, der zusieht und sich hinterher übergeben kann, stieg mir eine Woge giftiger Freude ins Herz. Aber das war unvernünftig. Es war ein Fehler, mich zu solchen Annahmen hinreißen zu lassen, weil ich im nächsten Augenblick so entsetzlich fror, dass ich mich unter meiner Decke zusammenrollte. Meine Zähne klapperten, ohne dass ich an mich halten konnte.
    Aber natürlich kann man nicht immer vernünftig sein. Manchmal zum Beispiel machte ich Gesetzentwürfe. Ich reformierte die Strafbestimmungen. Ich hatte bemerkt, dass es wesentlich war, dem Verurteilten eine Chance zu geben. Eine einzige von tausend, das genügte, um vieles besser zu machen. So könnte man, schien mir, eine chemische Verbindung finden, bei deren Einnahme der Patient (ich dachte: der Patient) in neun von zehn Fällen getötet würde. Er wüsste es, das war Bedingung. Bei genauer Überlegung, bei ruhiger Betrachtung der Dinge stellte ich nämlich fest, dass das Fehlerhafte am Fallbeil darin bestand, dass es dabei keine, absolut keine Chance gab. Der Tod des Patienten war ja ein für alle Mal beschlossen worden. Das war eine erledigte Sache, eine abgemachte Maßnahme, eine entschiedene Vereinbarung, und es kam nicht in Frage, sie zu revidieren. Wenn es ausnahmsweise nicht klappte, fing man noch einmal an. Folglich war das Ärgerliche dabei, dass der Verurteilte das gute Funktionieren der Maschine wünschen musste. Ich sage, dass dies das Fehlerhafte daran war. Das stimmt einerseits. Aber andererseits musste ich zugeben, dass darin das ganze Geheimnis einer guten Organisation lag. Genau genommen musste der Verurteilte moralisch mitarbeiten. Es lag in seinem Interesse, dass alles reibungslos klappte.
     
    Ich musste auch feststellen, dass ich bisher zu diesen Fragen Vorstellungen gehabt hatte, die nicht stimmten. Ich habe lange geglaubt – und ich weiß nicht, warum –, dass man, um zur Guillotine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher