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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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Das brachte mich darauf, dass ich während des ganzen Prozesses nicht nach Marie Ausschau gehalten hatte. Ich hatte sie nicht vergessen, aber ich hatte zu viel zu tun. Ich habe sie zwischen Céleste und Raymond gesehen. Sie hat mir ein kleines Zeichen gegeben, als wollte sie sagen: «Endlich», und ich habe ihr ein wenig ängstliches lächelndes Gesicht gesehen. Aber ich fühlte, dass mein Herz verschlossen war, und habe nicht einmal ihr Lächeln erwidern können.
    Das Gericht ist zurückgekommen. Sehr schnell hat man den Geschworenen eine Reihe von Fragen vorgelesen. Ich habe «des Mordes schuldig» … «Vorsatz» … «mildernde Umstände» gehört. Die Geschworenen sind hinausgegangen, und ich wurde in den kleinen Raum gebracht, in dem ich schon einmal gewartet hatte. Mein Anwalt ist dazugekommen: Er war sehr redselig und hat zuversichtlicher und herzlicher denn je mit mir gesprochen. Er meinte, alles würde gutgehen und ich mit ein paar Jahren Gefängnis oder Zuchthaus davonkommen. Ich habe ihn gefragt, ob es im Falle eines ungünstigen Urteils Aussichten auf eine Revision gäbe. Er hat es verneint. Seine Taktik wäre gewesen, keine Einsprüche zu erheben, um die Jury nicht zu verstimmen. Er hat mir erklärt, ein Urteil würde nicht einfach so, wegen nichts, aufgehoben. Das schien mir einleuchtend, und ich habe mich seinen Argumenten gebeugt. Bei kühler Betrachtung der Sache war es ganz normal. Sonst gäbe es ja zu viel unnötigen Papierkrieg. «In jedem Fall gibt es noch das Gnadengesuch», hat mein Anwalt gesagt. «Aber ich bin überzeugt, dass es günstig ausgeht.»
    Wir haben sehr lange gewartet, fast eine Dreiviertelstunde, glaube ich. Nach Ablauf dieser Zeit hat eine Klingel geläutet. Mein Anwalt hat mich allein gelassen und vorher gesagt: «Der Obmann der Geschworenen verliest jetzt die Antworten. Sie werden erst zur Urteilsverkündung hereingeholt.» Türen haben geschlagen. Leute liefen auf Treppen, von denen ich nicht wusste, ob sie nah oder fern waren. Dann habe ich eine gedämpfte Stimme etwas im Gerichtssaal lesen hören. Als die Klingel wieder geläutet hat, als die Tür zur Anklagebank sich geöffnet hat, ist mir die Stille des Saals entgegengeschlagen, die Stille und dieses eigenartige Gefühl, das mich überkam, als ich festgestellt habe, dass der junge Journalist die Augen abgewandt hatte. Ich habe nicht zu Marie hingesehen. Ich habe keine Zeit dazu gehabt, weil der Vorsitzende mir in einer sonderbaren Form gesagt hat, dass mir im Namen des französischen Volkes auf einem öffentlichen Platz der Kopf abgeschlagen würde. Da schien es mir, dass ich das Gefühl erkannte, das ich auf allen Gesichtern las. Ich glaube, es war Achtung. Die Gendarmen waren sehr liebenswürdig zu mir. Der Anwalt hat seine Hand auf mein Handgelenk gelegt. Ich dachte an nichts mehr. Aber der Vorsitzende hat mich gefragt, ob ich noch etwas hinzuzufügen hätte. Ich habe nachgedacht. Ich habe «nein» gesagt. Darauf hat man mich weggebracht.

V
    Zum dritten Mal habe ich mich geweigert, den Anstaltsgeistlichen zu empfangen. Ich habe ihm nichts zu sagen, ich habe keine Lust zu reden, ich werde ihn schon noch früh genug sehen. Was mich im Moment interessiert, ist, dem Mechanismus zu entrinnen, herauszufinden, ob es einen Ausweg aus dem Unvermeidlichen geben kann. Man hat mich in eine andere Zelle verlegt. Von dieser aus sehe ich, wenn ich liege, den Himmel, und ich sehe nur ihn. Alle meine Tage vergehen damit, auf seinem Antlitz das Nachlassen der Farben zu betrachten, das vom Tag in die Nacht überleitet. Im Liegen verschränke ich die Hände unter dem Kopf und warte. Ich weiß nicht, wie oft ich mich gefragt habe, ob es Beispiele für zum Tode Verurteilte gab, die dem unerbittlichen Mechanismus entronnen sind, vor der Hinrichtung verschwunden sind, die Polizeiketten durchbrochen haben. Ich warf mir dann vor, dass ich den Hinrichtungsberichten nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Man sollte sich immer für solche Sachen interessieren. Man weiß nie, was passieren kann. Wie jeder hatte ich Schilderungen in der Zeitung gelesen. Aber es gab bestimmt Spezialwerke, in denen nachzulesen ich nie neugierig genug gewesen war. Dort hätte ich vielleicht Fluchtberichte gefunden. Ich hätte erfahren, dass wenigstens in einem Fall das Rad angehalten hatte, dass Zufall und Glück nur einmal etwas an diesem unwiderstehlichen Vorsatz geändert hatten. Einmal! In gewisser Weise hätte mir das, glaube ich, genügt. Mein Inneres
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