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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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zu gelangen, auf ein Schafott steigen, Stufen hinaufklettern muss. Ich glaube, das lag an der Revolution von 1789, ich meine, an allem, was man mir zu diesen Fragen beigebracht oder gezeigt hatte. Aber eines Morgens habe ich mich an ein Foto erinnert, das die Zeitungen anlässlich einer aufsehenerregenden Hinrichtung veröffentlicht hatten: In Wirklichkeit stand die Maschine zu ebener Erde, ganz schlicht und einfach. Sie war viel schmaler, als ich dachte. Es war ziemlich komisch, dass ich das nicht früher bemerkt hatte. Diese Maschine auf dem Bild hatte mich dadurch verblüfft, dass sie wie ein Präzisionswerkstück aussah – vollendet und glänzend. Man macht sich immer übertriebene Vorstellungen von dem, was man nicht kennt. Ich musste dagegen feststellen, dass alles einfach war: Die Maschine ist auf derselben Ebene wie der Mensch, der auf sie zugeht. Er gelangt zu ihr, wie man jemandem entgegengeht. Auch das war ärgerlich. Der Aufstieg zum Schafott, das Emporsteigen in den freien Himmel – daran konnte sich die Phantasie klammern. Wohingegen hier das Mechanische wieder einmal alles zunichtemachte: Man wurde diskret getötet, ein bisschen verschämt und sehr präzise.
    Es gab noch zwei Dinge, über die ich die ganze Zeit nachdachte: das Morgengrauen und mein Gnadengesuch. Ich redete mir jedoch gut zu und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Ich legte mich hin, betrachtete den Himmel, bemühte mich, Interesse für ihn aufzubringen. Er wurde grün, es war Abend. Ich riss mich noch einmal zusammen, um den Gang meiner Gedanken abzulenken. Ich lauschte meinem Herzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieses Geräusch, das mich schon so lange begleitete, jemals aufhören könnte. Ich habe nie wirkliche Phantasie gehabt. Ich versuchte trotzdem, mir eine bestimmte Sekunde vorzustellen, in der das Schlagen dieses Herzens nicht mehr in meinem Kopf weitergehen würde. Aber vergeblich. Das Morgengrauen oder mein Gnadengesuch waren da. Schließlich sagte ich mir, das Vernünftigste wäre, mir keinen Zwang anzutun.
    Im Morgengrauen kamen sie nämlich, das wusste ich. Genau genommen habe ich meine Nächte damit zugebracht, auf dieses Morgengrauen zu warten. Ich habe mich nie gern überraschen lassen. Wenn mir etwas passiert, bin ich lieber ganz da. Deshalb habe ich schließlich tagsüber nur noch ein bisschen geschlafen, und die ganzen Nächte hindurch habe ich geduldig darauf gewartet, dass das Licht am Fenster des Himmels aufkam. Am schwierigsten war die zwielichtige Stunde, in der sie, wie ich wusste, gewöhnlich tätig wurden. Wenn Mitternacht vorbei war, wartete und lauerte ich. Nie hatte mein Ohr so viel Geräusche gehört, so schwache Töne vernommen. Ich kann übrigens sagen, dass ich in gewisser Weise während dieser ganzen Zeit Glück hatte, da ich nie Schritte gehört habe. Mama sagte oft, dass man nie ganz und gar unglücklich ist. Ich stimmte ihr in meinem Gefängnis zu, wenn der Himmel sich färbte und ein neuer Tag in meine Zelle kroch. Denn genauso gut hätte ich Schritte hören und hätte mein Herz zerspringen können. Auch wenn das leiseste Schlurfen mich an die Tür trieb, auch wenn ich, das Ohr ans Holz gepresst, krampfhaft wartete, bis ich mein eigenes Atmen hörte und erschrak, dass es sich heiser und so ähnlich wie das Röcheln eines Hundes anhörte, zersprang mein Herz letzten Endes doch nicht, und ich hatte wieder vierundzwanzig Stunden gewonnen.
    Den ganzen Tag über war da mein Gnadengesuch. Ich glaube, ich habe das Beste aus diesem Gedanken gemacht. Ich dosierte meine Mittel und holte die beste Ausbeute aus meinen Überlegungen heraus. Ich ging immer vom Schlimmsten aus: Mein Gnadengesuch wurde abgelehnt. «Na gut, ich werde also sterben.» Früher als andere, das war klar. Aber jeder weiß, dass das Leben nicht lebenswert ist. Im Grunde wusste ich wohl, dass es wenig ausmacht, ob man mit dreißig oder mit siebzig stirbt, da natürlich in beiden Fällen andere Männer und andere Frauen leben werden, und das Tausende von Jahren hindurch. Nichts war ja klarer. Immer war ich es, der starb, ob jetzt oder in zwanzig Jahren. Was mich in dem Moment ein bisschen in meiner Überlegung störte, war dieser furchtbare Schock, den ich bei dem Gedanken an zwanzig Jahre künftigen Lebens in mir fühlte. Aber ich brauchte ihn nur mit der Vorstellung zu unterdrücken, welche Gedanken ich in zwanzig Jahren haben würde, wenn ich trotzdem dahin kommen müsste. Wenn man stirbt, ist es egal, wie und wann, das
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