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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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war klar. Folglich (und das Schwierige war, alles, was in diesem «folglich» an Überlegungen steckte, nicht aus den Augen zu verlieren), folglich musste ich die Ablehnung meines Gnadengesuchs akzeptieren.
    In dem Moment, erst in dem Moment hatte ich sozusagen das Recht, erteilte ich mir gewissermaßen die Erlaubnis, die zweite Hypothese zu durchdenken: Ich wurde begnadigt. Unangenehm daran war, dass die ungestüme Regung des Blutes und des Körpers gedrosselt werden musste, die mir als wahnsinnige Freude in den Augen stach. Ich musste mich anstrengen, diesen Aufschrei zu mäßigen, ihn zur Räson zu bringen. Ich musste sogar bei dieser Hypothese unbefangen sein, um meine Ergebung in die andere annehmbarer zu machen. Wenn es mir gelungen war, hatte ich eine Stunde Ruhe gewonnen. Das war immerhin beachtlich.
    In einem solchen Moment habe ich es wieder einmal abgelehnt, den Anstaltsgeistlichen zu empfangen. Ich hatte mich hingelegt und ahnte das Nahen des Sommerabends an einem bestimmten hellen Gelb des Himmels. Ich hatte gerade mein Gnadengesuch abgelehnt und konnte die Wellen meines Blutes gleichmäßig in mir zirkulieren fühlen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, den Geistlichen zu sehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich an Marie gedacht. Sie schrieb mir schon lange nicht mehr. An dem Abend habe ich nachgedacht und habe mir gesagt, dass sie es vielleicht leid war, die Geliebte eines zum Tode Verurteilten zu sein. Mir ist auch der Gedanke gekommen, dass sie womöglich krank oder tot war. Das war normal. Wie hätte ich es erfahren sollen, da uns außer unseren jetzt getrennten Körpern nichts verband und aneinander erinnerte. Von dem Moment an wäre mir die Erinnerung an Marie übrigens gleichgültig gewesen. Als Tote interessierte sie mich nicht mehr. Ich fand das normal, wie ich auch sehr gut verstand, dass die Leute mich nach meinem Tod vergaßen. Sie hatten nichts mehr mit mir zu tun. Ich konnte nicht einmal sagen, dass der Gedanke hart war.
    Genau in diesem Moment ist der Anstaltsgeistliche hereingekommen. Als ich ihn sah, hat mich ein leichtes Zittern erfasst. Er hat es bemerkt und hat gesagt, ich sollte keine Angst haben. Ich habe gesagt, er käme gewöhnlich doch zu einer anderen Zeit. Er hat geantwortet, es wäre ein ganz freundschaftlicher Besuch, der nichts mit meinem Gnadengesuch zu tun hätte, über das er nichts wüsste. Er hat sich auf meine Pritsche gesetzt und mich aufgefordert, neben ihm Platz zu nehmen. Ich habe abgelehnt. Ich fand, dass er trotzdem sehr nett aussah.
    Er ist eine Weile sitzen geblieben und hat, die Unterarme auf den Knien, den Kopf gesenkt, seine Hände angesehen. Sie waren zart und kräftig, sie erinnerten an zwei behände Tiere. Er hat sie bedächtig gerieben. Dann ist er so lange, immer noch mit gesenktem Kopf, so sitzen geblieben, dass ich einen Augenblick lang den Eindruck gehabt habe, ich hätte ihn vergessen.
    Aber er hat plötzlich den Kopf gehoben und hat mir ins Gesicht gesehen: «Warum lehnen Sie meine Besuche ab?», hat er gesagt. Ich habe geantwortet, dass ich nicht an Gott glaubte. Er wollte wissen, ob ich dessen ganz sicher wäre, und ich habe gesagt, das brauchte ich mich nicht zu fragen: Das wäre eine Frage ohne Belang. Da hat er sich zurücksinken lassen und sich an die Wand gelehnt, die Hände flach auf den Oberschenkeln. Beinah ohne dass es so aussah, als spräche er mit mir, hat er eingewandt, dass man sich manchmal für sicher hielte und es in Wirklichkeit nicht wäre. Ich sagte nichts. Er hat mich angesehen und gefragt: «Was halten Sie davon?» Ich habe geantwortet, das wäre möglich. Auf alle Fälle wäre ich vielleicht nicht sicher, was mich wirklich interessierte, aber ich wäre völlig sicher, was mich nicht interessierte. Und gerade das, wovon er sprach, interessierte mich nicht.
    Er hat die Augen abgewandt und hat, immer noch ohne seine Stellung zu verändern, gefragt, ob ich nicht aus äußerster Verzweiflung so spräche. Ich habe ihm erklärt, dass ich nicht verzweifelt wäre. Ich hätte bloß Angst, das wäre ganz natürlich. «Gott würde Ihnen dann helfen», hat er bemerkt. «Alle, die ich in Ihrer Lage gekannt habe, wandten sich ihm zu.» Ich habe eingeräumt, dass sie das Recht dazu hätten. Das bewiese auch, dass sie die Zeit dafür hätten. Ich dagegen wollte nicht, dass man mir hilft, und mir würde gerade die Zeit fehlen, um mich für das zu interessieren, was mich nicht interessierte.
    In dem Moment machten seine Hände eine
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