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Der Fremde (German Edition)

Der Fremde (German Edition)

Titel: Der Fremde (German Edition)
Autoren: Albert Camus
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liebevoll zu erklären, dass ich nie irgendetwas wirklich hatte bereuen können. Ich war immer von dem beansprucht, was gleich geschehen würde, vom Heute oder vom Morgen. Aber natürlich konnte ich in der Lage, in die man mich gebracht hatte, mit niemand in diesem Ton reden. Ich hatte kein Recht, mich liebevoll zu zeigen, gutwillig zu sein. Und ich habe versucht, wieder zuzuhören, weil der Staatsanwalt angefangen hatte, von meiner Seele zu sprechen.
    Er sagte, er hätte sich über sie gebeugt und hätte nichts gefunden, meine Herren Geschworenen. Er sagte, eine Seele, die hätte ich in Wirklichkeit gar nicht, und ich wäre für nichts Menschliches und keines der moralischen Prinzipien zugänglich, die das Herz der Menschen behüten. «Gewiss können wir es ihm nicht vorwerfen», fügte er hinzu. «Wir können uns nicht beschweren, dass ihm das, was er nicht erwerben kann, fehlt. Aber hier, vor diesem Gericht, muss sich die ganz negative Tugend der Toleranz in die weniger leichte, aber höhere der Gerechtigkeit verwandeln. Zumal, wenn die Leere des Herzens, wie sie bei diesem Mann zu beobachten ist, ein Abgrund wird, in dem die Gesellschaft umkommen kann.» In dem Zusammenhang hat er über meine Einstellung zu Mama gesprochen. Er hat wiederholt, was er während der Verhandlung gesagt hatte. Aber er ist viel ausführlicher gewesen als bei seiner Darstellung meiner Verbrechen, so ausführlich sogar, dass ich schließlich nur noch die Hitze dieses Vormittags gefühlt habe. Bis zu dem Augenblick zumindest, als der Ankläger innegehalten hat und nach kurzem Schweigen mit sehr tiefer, sehr ergriffener Stimme fortgefahren ist: «Dieses selbe Gericht, meine Herren, wird morgen über die allerabscheulichste Untat urteilen: den Mord an einem Vater.» Ihm zufolge schreckte die Vorstellungskraft vor diesem entsetzlichen Anschlag zurück. Er wagte zu hoffen, dass die menschliche Gerechtigkeit unnachsichtig bestrafen würde. Aber er scheute sich nicht zu sagen, dass das Grauen, welches ihm jenes Verbrechen einflößte, fast von dem übertroffen würde, das er angesichts meiner Gefühllosigkeit empfände. Noch immer ihm zufolge stellte sich ein Mann, der seine Mutter moralisch tötete, in derselben Weise außerhalb der menschlichen Gesellschaft wie jener, der mörderische Hand an den Urheber seines Lebens legte. Auf jeden Fall bereitete der eine die Taten des anderen vor, er kündigte sie gewissermaßen an und legitimierte sie. «Ich bin davon überzeugt, meine Herren», hat er die Stimme hebend hinzugefügt, «Sie werden meinen Gedanken nicht zu kühn finden, wenn ich sage, dass der Mann, der auf jener Bank sitzt, auch des Mordes schuldig ist, über den dieses Gericht morgen wird urteilen müssen. Er muss dementsprechend bestraft werden.» Hier hat sich der Staatsanwalt sein schweißglänzendes Gesicht abgewischt. Er hat schließlich gesagt, seine Pflicht wäre schmerzlich, aber er würde sie unerschütterlich erfüllen. Er hat erklärt, ich hätte nichts mit einer Gesellschaft gemein, deren grundlegende Regeln ich nicht anerkennen wollte, und ich könnte nicht an das menschliche Herz appellieren, dessen elementarste Regungen mir unbekannt wären. «Ich fordere von Ihnen den Kopf dieses Mannes», hat er gesagt, «und ich fordere ihn leichten Herzens von Ihnen. Denn wenn es im Laufe meiner schon langen beruflichen Tätigkeit vorgekommen ist, dass ich die Todesstrafe forderte, habe ich diese unerquickliche Pflicht niemals so sehr wie heute vom Bewusstsein eines unabweislichen, heiligen Gebots und von dem Grauen, das ich vor dem Gesicht eines Menschen empfinde, in dem ich nichts als Abscheuliches lese, ausgeglichen, aufgewogen und überstrahlt gefühlt.»
    Als der Staatsanwalt sich wieder gesetzt hat, herrschte ziemlich lange Schweigen. Ich war betäubt vor Hitze und vor Überraschung. Der Vorsitzende hat gehüstelt und hat mich sehr leise gefragt, ob ich etwas dazu zu sagen hätte. Ich bin aufgestanden, und da ich Lust hatte zu reden, habe ich, ein bisschen aufs Geratewohl übrigens, gesagt, ich hätte nicht die Absicht gehabt, den Araber zu töten. Der Vorsitzende hat erwidert, dass das eine Behauptung wäre, dass er meine Verteidigungstaktik bisher schlecht verstände und froh wäre, sich von mir die Motive für meine Tat erläutern zu lassen, bevor er meinen Anwalt anhörte. Ich sagte schnell, wobei ich die Wörter durcheinanderbrachte und mir meiner Lächerlichkeit bewusst war, dass es wegen der Sonne gewesen wäre. Im Saal
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