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Ein Engel mit kleinen Fehlern

Ein Engel mit kleinen Fehlern

Titel: Ein Engel mit kleinen Fehlern
Autoren: Wendy Haley
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1. KAPITEL
    Rae stand vor dem hohen Spiegel in der Künstlergarderobe.
    Winzige Messingglöckchen läuteten, als sie das Oberteil ihres Kostüms zurechtzupfte.
    "Diesmal übertreibst du wirklich", murmelte sie.
    Sie hatte sich für das Unterhaltungsprogramm des größten privaten Spielsalons in Baltimore engagieren lassen. Rae Ann Boudreau, Bauchtänzerin und Spezialkurier für Vorladungen und amtliche Mitteilungen aller Art. Die Empfänger waren meistens nicht begeistert, Rae zu sehen. Yasmin, ihre alte Zimmergenossin vom College, hatte ihr diese orientalische Kunst fast ein ganzes Jahr lang beigebracht. Als Hobby natürlich. Wer hätte gedacht, dass sie es einmal beruflich einsetzen würde?
    Rae warf das schulterlange kastanienbraune Haar nach hinten und musterte sich stirnrunzelnd. Sie hätte diesen Auftrag ablehnen sollen, aber sie hatte es nicht über sich gebracht, Barbara Smithfield abzuweisen. Vor zwei Jahren hatte Barbaras Mann sie verlassen, und seitdem versuchte die arme Frau, von ihm den Unterhalt für die drei Kinder einzutreiben. Nachdem alle andere Kurierdienste abgelehnt hatten, war sie schließlich voller Verzweiflung zum Boudreau Professional Process Service gekommen.
    "Für deine neunundzwanzig Jahre hast du ein viel zu weiches Herz", sagte Rae zu ihrem Spiegelbild.
    Hätte die Frau doch nur nicht ihre Kinder mitgebracht. Acht, sieben und vier Jahre alt. Große blaue Augen. Die Jüngste hatte einen alten, schon ganz zotteligen Teddy in den Armen gehalten.
    "Es waren die blauen Augen", stöhnte Rae. "Seit Jimmy Donovan damals in der zweiten Klasse habe ich eine Schwäche für blaue Augen."
    Dann lachte sie. Für die dreißig Dollar Gebühr, die sie von Barbara Smithfield verlangen würde, hatte sie schon mindestens sechs Stunden gearbeitet. Also würde sie das Finale genießen, den Bauchtanz eingeschlossen. Rae Ann Boudceau entging so schnell niemand.
    Sie wackelte mit den Hüften. Die bunt bestickte Schärpe und der falsche Saphir, den sie sich in den Bauchnabel geklebt hatte, glitzerten im Licht. Das knappe Kostüm stand ihr besser als erwartet. Bauchtänzerinnen sollten kurvenreich sein, und niemand konnte Rae Ann Boudreau als mager bezeichnen. Im Gegenteil, es hätte sie gekränkt, wenn sie den knappen BH nicht ganz ausgefüllt hätte.
    Jemand klopfte an die Tür. "Sie warten auf dich, Honey", rief ein Mann.
    "Ich bin bereit, Süßer", säuselte sie zurück.
    Sie überzeugte sich, dass die Vorladung sicher im Kostüm steckte, und eilte nach vorn.
    Automatisch sah sie sich nach möglichen Fluchtwegen um.
    Es gab zu viele Türen, also musste sie schnell sein, damit Smithfield ihr nicht entkam.
    An den Wänden hingen zahllose Spiegel, von denen manche dazu dienten, die Gäste heimlich zu beobachten. Teppiche dämpften die Schritte. Nett, dachte Rae. Überall standen Spieltische, an denen höflich lächelnde Angestellte Gewinne ausgaben oder Einsätze einstrichen.
    Das Stimmengewirr wurde deutlich leiser, als die fast ausschließlich männlichen Gäste sie bemerkten. Hier und dort entdeckte Rae ein bekanntes Gesicht. Aber sie bezweifelte, dass einer von ihnen in der geschminkten und verschleierten Tänzerin die Überbringerin unangenehmer Nachrichten erkennen würde.
    Dann sah sie ihr Opfer. Peter Smithfield wirkte wesentlich älter als auf dem Foto, das seine Frau ihr gegeben hatte. Seine Mundwinkel hingen nach unten. Offenbar hatte er beim Pokern einen schlechten Tag. Viel besser würde er nicht werden.
    "Jetzt habe ich dich", murmelte sie.
    Plötzlich fiel ihr Blick auf ein anderes Gesicht in der Menge, ein markantes, äußerst männliches Gesicht. Und dann die Augen
    ...
    Sie waren eisblau, irgendwie verschleiert und auffallend blass unter den schwarzen Wimpern und dunklen Brauen.
    Es waren Augen, die Geheimnisse bargen. Geheimnisse, die zugleich neugierig machten und zur Vorsicht mahnten.
    Unwillkürlich starrte sie auf den breiten sinnlichen Mund.
    Fältchen umgaben die festen, wohlgeformten Lippen und verliehen dem Gesicht einen zynischen, fast
    lebensüberdrüssigen Ausdruck. Der Mann passte nicht hierher.
    Ihr Interesse war geweckt.
    Nun ja, was immer er sein mochte, er war ein Mann, und was er in ihr auslöste, spürte sie bis in die Zehenspitzen. So etwas war ihr noch nie geschehen. Rae war stolz darauf, dass sie keine der üblichen weiblichen Schwächen aufwies. Sie war selbstständig, selbstbewusst, selbstsicher.
    Warum fühlte sie seinen Blick wie ein Streicheln? Warum schlug ihr Herz
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