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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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Schönheit
betrachtete ich die Hände. Sie nahmen ihren Ursprung dort, wo ein Armreif und
die gestickte Kante des Seidenhemdes den Unterarm umfaßte, sanft gerundete und
unbegreiflich zarte Gelenke verbanden durchsichtige Glieder. Am schönsten waren
die Finger: lang, geschmeidig, mit heller Haut, zu ebenmäßigen langen Kegeln
geformt, mit Schatten in den Beugen, wunderbar lebendig, wenn sie – wie Blütenblätter
– sich langsam auftaten oder zu einem durchsichtigen Kelch zusammenfügten.
    Wenn ich aber auch meine
Aufmerksamkeit zuerst diesen beiden kleinen Geschöpfen, zwei fünffüßigen
Tierchen, zwei Blüten, zuwandte, so galt doch mein Blick nicht nur ihnen, weder
am Anfang, als ich hauptsächlich auf sie schaute, noch später, als ich die Frau
wie ein unbekanntes Land zu entdecken begann. Alles an ihr zeigte Gleichmaß und
Einklang: der Blick der leicht schwarz umrandeten Augen, zusammenfließend mit
der Bewegung des Arms, den das durchsichtige Gewebe des Gewandes kaum verhüllte;
die leichte Neigung des Kopfes; dann und wann ein Zittern des goldgefaßten
Smaragds auf der Stirn und ein unbewußtes Zucken des Fußes, der in einem
silbernen Pantöffelchen steckte; ein Gesicht ohne Unebenheiten, von einem
sanften Licht übergossen, das aus dem Innern kam, aus dem Blut, das sich in
warmen Schimmer verwandelte; ein feuchter Glanz auf den Zähnen hinter scheinbar
trägen, vollen Lippen.
    Sie schien nur Körper zu sein, alles
andere war von ihm verdrängt. Sie weckte kein Verlangen in mir, das hätte ich
mir nicht gestattet, ich hätte den Wunsch noch im Keim erstickt – aus Scham,
durch den Gedanken an meine Jahre und meinen Stand, durch das Bewußtsein der
Gefahr, der ich mich aussetzen würde, durch die Angst vor der Unruhe, die
schwerer auf dem Menschen lasten kann als eine Krankheit, durch die Gewohnheit
der Selbstbeherrschung. Aber ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich sie mit
Wohlgefallen betrachtete, mit dem tiefen und ruhigen Genuß, mit dem man auf einen
still fließenden Fluß blickt oder auf den Himmel in der Abenddämmerung, auf den
Mond um Mitternacht, auf einen blühenden Baum, auf den See meiner Kindheit am
frühen Morgen. Ohne den Wunsch, daß man es habe, ohne die Möglichkeit, daß man
es ganz erlebe, ohne die Kraft, es zu verlassen. Angenehm war es, zu
beobachten, wie ihre lebendigen Hände einander fingen, sich im Spiel vergaßen,
angenehm war es, sie sprechen zu hören, nein, sie brauchte gar nicht zu
sprechen, es genügte, daß sie da war.
    Dann aber kam mir zu Bewußtsein, daß
auch dieses freudige Zuschauen gefährlich war, ich fühlte mich nicht mehr
überlegen, auch nicht mehr wohl verborgen, etwas Ungewünschtes regte sich in
mir. Das war keine Leidenschaft, sondern etwas vielleicht Schlimmeres: die
Erinnerung. An die ein zige Frau in meinem Leben. Ich weiß nicht, wie es
geschah, daß ihr Bild sich aus dem herauslöste, womit die Jahre es verschüttet
hatte; sie war nicht so schön gewesen wie die Frau vor mir, ihr auch nicht
ähnlich. Warum lockte die eine die andere hervor? Auf einmal beschäftigte mich
die ferne, die nicht da war, noch mehr; seit zwanzig Jahren bemühte ich mich,
sie zu vergessen, und vergaß sie doch nicht, ich dachte an sie, sie trat mir
ins Gedächtnis, wenn ich es nicht wollte, es nicht brauchte, bitter wie Wermut.
Lange war sie nicht in mir gewesen, warum zeigte sie sich jetzt? Geschah es
wegen dieser Frau mit dem Gesicht wie aus sündhaften Träumen, wegen des
Bruders, damit ich ihn vergäße, oder sollte ich mir wegen all dessen, was
geschehen war, Vorwürfe machen? Vorwürfe darüber, daß ich alle Möglichkeiten
ausgelassen hatte und daß ich sie nicht mehr herbeiführen konnte.
    Ich senkte den Blick. Nie darf der
Mensch meinen, er sei sicher, auch nicht, das Vergangene sei gestorben. Warum
aber regte es sich gerade jetzt, da ich es am wenigsten brauchte? Es kam doch
nicht auf sie, die ferne, an; die Erinnerung an sie wechselte mit dem
heimlichen Gedanken, daß alles hätte anders sein können, auch dies, was mich
jetzt schmerzte. Geh fort, Schatten, nichts hätte anders sein können, und es
hätte sich etwas anderes gefunden, was schmerzt. Es kann nicht anders sein,
auch wenn es im menschlichen Leben anders zuginge.
    Die meine Gedanken aufgestört hatte,
brachte mich wieder zur Besinnung.
    „Hörst du zu?"
    „Ja."
    Ob sie meine Geistesabwesenheit
bemerkt hatte?
    „Ich höre zu. Sprich weiter."
    Ich hörte wirklich zu, es war
sicherer. Ich lauschte
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