Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
Vom Netzwerk:
in meinem Gesicht eine Spur von Scherz, von Zweifel an
meinen eigenen Worten, ein mögliches Mißverständnis zu finden. Doch sie fand
nur Sicherheit und Bedauern darüber, daß es so sei. Es kam mir vor, als steige
ihr Zorn, wie aus einer unterirdischen Quelle genährt, er wog um so schwerer,
als sie ihm nicht auf würdige Weise und mit gutem Grunde Widerstand bieten
konnte, so wartete ich denn absichtlich, daß er sie überflute, und hinderte ihn
daran, sich vorzeitig zu ergießen.
    Ich ging auf alles ein, was sie
wollte, aber berechtigte Einwände blieben: „Man muß ihn überreden, daß es ohne
Klage abgeht."
    Ich glaubte, sie würde in ihrem
Trotz beharren, die Möglichkeit jedes Prozesses und jeder Änderung des
väterlichen Wollens bestreiten, und dann würde ein anderes Gespräch beginnen –
das würde ich ihr anbieten.
    Sie verzichtete jedoch sogleich auf
Widerstand. Sie hatte es eilig.
    Ihre Unsicherheit enthüllend,
stellte sie die Frage:
    „Ob er darauf eingehen wird?"
    „Man muß eben gute und vernünftige
Gründe anführen, die ihn weder erzürnen noch beleidigen werden. Mit Starrsinn
ist bei ihm schwer etwas auszurichten."
    „Ich hoffe, ihr könnt gute und
vernünftige Gründe finden."
    Das war Spott – oder Ungeduld. Sie
hatte geglaubt, alles werde leichter gehen.
    Auch ich hatte es geglaubt.
    „Ich will es versuchen",
erwiderte ich.
    Ich weiß nicht, ob sie in meiner
Stimme die Unsicherheit, das Schwanken, die Zweifel wahrnahm. Ich weiß es
nicht. Aber meine Siegesgewißheit war wirklich geschwunden.
    „Du glaubst nicht, daß er darauf
eingehen wird?"
    „Ich weiß nicht."
    Hätte ich nur noch einen Augenblick
ausgehalten, wäre meine Liebe zum Bruder ein wenig stärker gewesen als die
moralischen Hemmnisse in mir, so hätte alles gut geendet. Oder es wäre schlimmer
geworden. Aber ich hätte vielleicht den Bruder gerettet.
    Ich ließ keineswegs so leicht von
meinem Wunsche ab, wie das auch immer ausgehen könnte. In ein und demselben
Augenblick fand ich eine Unzahl von Gründen für das eine wie für das andere,
für Zustimmung wie für Ablehnung, und oft war es derselbe Grund. Während sie
wartete, in der kurzen Zeitspanne eines Atemzuges, tobte in mir ein Sturm. Es
ging um mein Leben und das Leben meines Bruders. Sie würde von mir ihren
leichtgläubigen Bruder bekommen, er würde auf den Rat der Freunde eingehen. Ich
würde den Lohn für Mühe und Verrat eintreiben – keinen
allzu großen Verrat freilich, denn sie würde auch ohne mich tun, was sie
wollte; immerhin konnte ich dazu beitragen, daß alles etwas schöner aussehe.
Warum sollte ich mich schämen, warum mir Vorwürfe machen? Es ging darum, den
Bruder zu retten!
    Diese innere Stimme hätte bloß
lauter und überzeugender schreien müssen, damit sie die andere Stimme, die mich
zurückhielt, übertöne. Ich wußte nicht, was mein Bruder getan hatte, wußte
nicht, in welchem Maße er schuldig war, ich glaubte nicht, daß es etwas
Schweres sei, zu anständig und zu jung war er für größere übeltat. Vielleicht
würden sie ihn auch bald freilassen. Doch wenn sie es auch nicht täten – ich
war beinahe sicher, daß sie es nicht tun würden –, konnte ich mich auf diese
unredliche Verschwörung gegen einen Menschen einlassen, der mir nie auch nur
ein böses Wort gesagt hatte? In Frage stand nicht der Besitz, das Vermögen –
ich habe keines und achte es auch nicht sonderlich bei anderen –, in Frage
stand etwas anderes: Unrecht, eine schmutzige Tat, Unredlichkeit, gewaltsame
Entrechtung. Ich schätzte ihren Bruder nicht sehr, er war oberflächlich,
leichtsinnig, sonderbar; aber wäre er auch schlimmer gewesen, als er war – wie
sollte ich es vor mir selbst rechtfertigen, wenn ich diesem rücksichtslosen
Weib bei ihrer Räuberei helfen würde?
    Was hatte ich früher so viele Jahre
den anderen gepredigt? Was würde ich nach alledem mir selbst sagen? Gerade ein
am Leben bleibender Bruder würde mich unaufhörlich an meine häßliche Tat
erinnern, die ich nie mehr würde gutmachen können. Nichts hatte ich als die
Überzeugung, ehrlich zu sein; verlöre ich auch sie, so wäre ich eine Ruine.
    So dachte ich, wahrhaftig. Manchem wird
es vielleicht seltsam erscheinen, wie ich zwischen den beiden ungleichen
Dingen schwanken konnte, wie ich zögern konnte, einen kleinen Verrat zu
begehen, damit ich den Bruder befreite. Wenn man aber gelernt hat, an seine
eigenen Handlungen die strengsten Maßstäbe des Gewissens anzulegen, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher