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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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Sünde
vielleicht mehr fürchtend als den Tod, so erscheint es gar nicht so seltsam.
    Außerdem wußte ich und war dessen
ganz gewiß, daß ich nur zu Hasan zu gehen und ihm zu sagen brauchte: Verzichte
auf das Erbe, um meines Bruders willen – und er würde verzichten, sofort.
    Aber ich konnte, ich wollte ihr
nichts davon sagen, solange ich nicht mit ihm gesprochen hatte.
    Sie trieb mich zur Eile, versuchte,
mein Zögern zu überwinden: „Ich würde die erwiesenen Dienste nicht vergessen.
Es liegt mir daran, daß sich kein Geschrei um unsere Familie erhebt."
    Womit würde
sie den Dienst vergelten, großer Gott!
    Steh auf,
Ahmed Nurudin, steh auf und geh hinaus.
    „Ich werde dir Nachricht
geben", sagte ich, um den Weg für eine neue Begegnung zu ebnen.
    „Wann?"
    „Sobald
Hasan kommt."
    „Er ist
morgen oder übermorgen zu erwarten."
    „Dann also
morgen oder übermorgen."
    Wir standen
zugleich auf.
    Ihre schöne Hand hob sich nicht, um
das Gesicht zu verdecken. Wir waren Komplizen.
    Etwas Häßliches war zwischen uns
geschehen, und ich war nicht sicher, ganz sauber geblieben zu sein.

3
    Mein Gott, sie glauben nicht!
    Draußen vor dem Hause wartete die Unruhe
geduldig auf mich, als hätte ich sie da zurückgelassen, und sie gesellte sich
wieder zu mir, als ich heraustrat.
    Nur daß sie jetzt verwickelter war
als vorher, sie war vielfältiger, schwerer und unbestimmter geworden. Nichts
Böses hatte ich getan, aber es blieb die Erinnerung an dumpfe Stille,
undurchdringliches Dunkel, seltsames Flimmern, qualvolles Warten, widerwärtige
Spannung, verborgene und mit einem Lächeln aufgeputzte Gedanken, schmähliche
Geheimnisse, und es schien mir, als hätte ich etwas versäumt, einen Fehler gemacht,
aber ich wußte nicht, wobei, wußte nicht, wie – ich wußte es nicht und
beruhigte mich nicht. Schwer trug ich an diesem Gefühl des Unbehagens, an
dieser Besorgtheit, deren Ursache ich nicht bestimmen konnte. Vielleicht lag es
daran, daß ich meinen Bruder nicht erwähnt, daß ich nicht versucht hatte, von
ihm zu sprechen. Doch, ich hatte es absichtlich so gehalten, um nichts zu
verderben. Oder daran, daß ich an einem widerwärtigen Gespräch teilgenommen
und widerwärtige Absichten gehört hatte, ohne mich ihnen entgegenzustellen,
ohne einen unschuldigen Menschen zu verteidigen; freilich, ich hatte meine
Gründe, die wichtiger waren als das alles, und es wäre nicht recht gewesen, mir
selbst zu große Vorwürfe zu machen. Woran ich auch rühren mochte, immer fand
ich eine Rechtfertigung, die Bedrücktheit indessen blieb.
    Der Mond schien, sein Licht war
spröd und seidig zugleich, die Grabmale auf dem Friedhof schimmerten weiß und
warm, zwischen den Häusern hockte die zerbrochene Nacht, in Gassen und Höfen
rührte sich aufgeregt das junge Volk, Kichern ließ sich vernehmen und ferner
Gesang und Geflüster; es war, als zuckte in dieser Nacht zum Georgstag die
ganze Stadt im Fieber. Und auf einmal, ohne rechten Anlaß, fühlte ich mich von
alledem ausgeschlossen. Unbemerkt hatte sich Furcht in mich eingeschlichen,
alles begann wunderliche Ausmaße anzunehmen, das waren nicht mehr vertraute
Bewegungen, keine vertrauten Menschen mehr, nicht mehr die vertraute Stadt. So
hatte ich sie nie gesehen, ich hatte nicht gewußt, daß das Bild der Menschen
und der Welt sich von einem Tag zum andern, von einer Stunde zur andern, von
einem Augenblick zum andern so verzerren könnte, als schäumte
Hexenblut auf, das keiner zur Ruhe bringen kann. Ich sah die Paare, hörte die
Paare, sie waren hinter allen Zäunen, hinter allen Toren, hinter allen Wänden,
sie lachten nicht wie an anderen Tagen, blickten nicht so und sprachen nicht
so, ihre Stimmen klangen gedämpft und belegt, schrilles Lachen zuckte wie
Blitze in diesem drohenden Gewitter, die Luft war von Sünde erhitzt, die Nacht
war voll von ihr; in dieser Nacht würden Hexen kichernd über die von der Milch
des Mondlichts begossenen Dächer fliegen, und keiner würde vernünftig bleiben,
die Menschen würden auflodern in Leidenschaft und Wildheit, in Irrsinn und in
dem Drang, sich zu verderben, mit einemmal, alle – und ich, wohin mit mir? Man
hätte beten, Gottes Gnade für alle Sündigen erflehen sollen oder eine Strafe,
die sie zur Vernunft brächte. Der Zorn packte mich wie ein Fieber, wie ein
Anfall. Hilft denn nichts von alledem, was wir tun? Ist das Wort Gottes, das
wir verkünden, nichts als Gestammel, Schellenklang, oder bleibt ihr Ohr taub
für Gottes Wort? Ist
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