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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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der rechte Glaube in ihnen so schwach, daß er einstürzt
wie ein morscher Zaun vor dem Rudel wilder Leidenschaften?
    Hinter einer Umfriedung hörte ich
die heißen Stimmen von Mädchen, die Liebstöckl und rote Eier in Kupferkessel
voll Wasser legten, um sich mit diesem Wasser am frühen Morgen zu waschen,
gleich Wilden, die an Blumen- und Nachtzauber glauben.
    Schämen sollt ihr euch, sprach ich
zu der hölzernen Umfriedung, Scham und Schande über euch. Wessen Glauben
bekennt ihr? Welchen Teufeln gebt ihr euch anheim?
    Vergebens war es, an diesem Abend,
der wahnwitziger war als alle anderen, etwas zu unternehmen oder zu sagen. Um
Mitternacht würden diese Mädchen zu den Wassermühlen gehen und sich nackt in
dem Wasserschaum baden, der vom Mühlrad spritzt, die Teufel würden dann aus
ihren Höhlen hervorspringen und mit behaarten Pranken den Mädchen auf die
nassen, im Mondlicht glänzenden Schenkel klatschen.
    Geht nach Hause, sagte ich zu den
jungen Burschen, die mir, außer Rand und Band, entgegenkamen. Morgen ist der
Tag Georgs, das ist ein Heiliger der Giaurs, nicht unserer. Begeht keine
Sünden.
    Ihnen aber war es gleich, der ganzen
Stadt war es gleich, niemand kann ihnen diese Nacht nehmen.
    Es ist das alte Recht auf Sünde in
der Georgsnacht. Sie beharren auf ihm trotz ihres Glaubens, gegen ihren
Glauben, sind in diesen vierundzwanzig Stunden besudelt mit dem lasterhaften
Geruch des Liebstöckls und der Liebe, des Liebstöckls, der sündhaft nach Weib
riecht, und der Liebe, die den liebstöcklgleichen Duft von Frauenschenkeln hat.
In diesem Gespann eines Tages und einer Nacht ist die Sünde aus den
verschlossenen Schläuchen des Wunsches wie aus einem riesigen Eimer weithin
ausgeschüttet. Eine fremde, uralte Zeit schleppt sich uns nach, sie ist stärker
als wir, tritt zutage im Aufruhr des Körpers, der kurz währt, aber bis zum
nächsten Aufruhr in Erinnerung bleibt. So
überdauert er, und alles andere ist nur Schein, alles, was zwischen diesen
Ursiegen der Sünde liegt. Und das Unglück besteht nicht so sehr in der
Zuchtlosigkeit, als darin, daß jenes fremde Böse die Jahrhunderte überdauert
und stärker ist als der rechte Glaube. Was haben wir getan, was haben wir erreicht,
was haben wir zerstört, was haben wir aufgebaut? Kämpfen wir nicht vergebens
gegen die natürlichen Triebe, die stärker sind als alles, was die Vernunft zu
bieten vermag? Ist es nicht zu trocken, ohne Anziehung, was wir zum Austausch
für den saftigen Baum der Wildheit bieten? Was stellen wir dem Zauber jenes
Rufes aus Urzeiten entgegen? Werden uns die fernen, wilden Vorfahren
überwältigen und uns zu ihrer Zeit zurückführen? Nichts anderes wünsche ich,
als daß meine finstere Ahnung schlimmer sei als die Wahrheit, aber ich
fürchte, der Blick meiner aufgewühlten Seele ist schärfer als bei meinen
Brüdern, denen diese Welt näher ist als jene. Keinen beschuldige ich,
allwissender Gott, sei du mir gnädig und ihnen und allen sündigen Menschen.
    Diese Nacht blieb mir in der
Erinnerung. Allein wegen dieser Hitze, die mir den Atem benahm, und wegen der
Leere, die fremde Leidenschaft um mich herum schuf, hätte ich sie im Gedächtnis
behalten, auch wenn da nichts anderes gewesen wäre. Gott aber hatte gewollt, daß
sie anders sei als die übrigen Nächte, daß in ihr – gleichsam ein lange
vorbereitetes Zusammentreffen – all das geschehe, was mein Leben in zwei
Hälften spaltete, und daß es mich von allem trenne,
was ich vierzig friedliche Jahre gewesen war.
    Ich wanderte zurück zur Tekieh,
bedrückt, niedergeschlagen, an diesem Abend vielleicht der einzige unglückliche
Mensch in der Stadt, gemartert von der Unruhe der ganz veränderten Gassen, vom
gedämpften Mondlicht, von einer grundlos auflebenden Angst, von der Unsicherheit,
die alles ringsum mir einflößte, so als ginge ich zwischen niedergebrannten
Häusern, und die stille, verschlafene Tekieh erschien mir als ersehnter
Zufluchtsort, dessen dicke Mauern mich der Stille, die ich brauchte, und der
Ruhe, an der kein Ekel wäre, zurückgeben würden.Ich würde einen Jasin [10] lernen
und im Gebet die aufgewühlte Seele beruhigen, die mehr litt, als es Gott lieb
ist. Denn ein rechter Gläubiger darf nicht in Verzweiflung und Kleinmut fallen.
Ich Sünder aber war so kleinmütig, daß ich beinahe selbst den Grund vergaß, den
ich unterwegs gefunden hatte, und daß ich ihn mit Mühe wieder ins Bewußtsein
rief, damit meine Unruhe sich an etwas halten konnte. Ich
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