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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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Welches Bild oder welche Erinnerung, welches Wort, das noch nachklang,
welches verträumte Sinnen, was für eine Sünde? Die Blässe des Mondlichts tilgte
nicht die gesunde Farbe seiner Wangen, die geformt waren mit den männlichen
Zügen eines jungen Feldarbeiters, der ein Mädchen heimführt, und von der Kraft
des stark pochenden Blutes. Was suchte er in der Stille dieses heiligen Ortes,
in den harten Fesseln des Derwisch-Ordens, er war von dieser Welt, dieser
Georgsnacht, diesem durchleuchteten, lauen, zur Sünde lockenden Dunkel, der
Duft des Liebstöckls haftete ihm an, er brachte ihn mit an den Händen, im Atem,
war durchdrungen von der Hexerei der sinnentaumelnden Gassen, hatte den Lockruf
des Tieres gehört, sich betäuben lassen von ihm, vielleicht schlug noch in
seiner entrückten Handfläche der Puls eines anderen jungen Körpers, und eine
schwer zu bezwingende Flamme loderte ihm aus den Augenhöhlen. Verunreinigt war
er von dieser unreinen Nacht, beschmutzt, versengt, in Licht getaucht,
gereinigt hätte man ihn an diesem Abend hinter sieben Schlösser bringen müssen,
damit er nicht in eigenem und fremdem Feuer verbrenne; diese Tekieh-Stille,
diese Einsamkeit würde ihn ersticken, warum kehrte er nicht zurück in die
Nacht, um das zu sein, was er war, schwer würde es ihm fallen, auf das ferne
Morgengrauen zu warten. Heute abend duftete der Liebstöckl, heute abend geschah
manches, etwas Schreckliches war dieser heutige Abend, der Mond würde noch
lange nicht untergehen, in Lichtbündeln voll lockender Schatten würden an den
Wassermühlen, unter den Erlen die Tropfen funkelnd zersprühen, der Mond würde
diese ganze Nacht leuchten, rufen würde der Mond durch diese ganze Nacht, man
mußte mit ihm gehen, mußte allein gehen, gehen und irren, gehen und nicht
zurückkehren, gehen und sterben, gehen und leben, diese Nacht, die bleiben
würde, wenn alles unterginge.
    Da, nun war es hereingebrochen.
    Gewiß hatte es nicht länger als
einen Augenblick gedauert, die Zeit eines Lidschlags, ich merkte es daran, daß
der Jüngling weiter mit erstarrtem, abwesendem Lächeln vor mir stand, nichts
hatte er gehört, nichts gespürt von dem Tosen in mir, kein Staunen war ihm
anzumerken über den Wahnsinn, der mich plötzlich gepackt hatte. Er kam wie ein
Aufstand, nach der Qual und der Angst um den Bruder, nach den Zweifeln, die an
meinen Wurzeln rüttelten, die Macht des Lebens brach herein, die darauf
wartete, daß die von uns errichteten Fundamente zusammenbrächen, und die wie
ein Sturzbach die lange von uns gepflegten Dämme niederriß und ödes Gestein zurückließ.
Da, in diesem Augenblick der Bestürzung, konnte ich mich nicht selbst
verurteilen, auch nicht bereuen, auch nicht beten – zu heiß war alles noch. Als
hätte ein Blitz eingeschlagen, mich verbrannt, mir die Kraft genommen.
    Geh, sagte ich leise zu ihm. Geh,
sagte ich. Vielleicht sagte ich es auch nicht, aber er verstand es, am
Zucken meiner Lippen oder an der Geste meiner Hand, denn er wollte fort, und er
ging – ohne Eile, damit er nicht die Ungeduld verriete, die ihn sicherlich
trieb, recht bald allein mit dem zu sein, was er in den Augen mitgebracht
hatte. Geh, sagte ich, denn er war Zeuge meiner Schwäche gewesen, unbewußt,
blind und taub, aber ich wußte, er war dabeigewesen, und ich wollte mich nicht
vor ihm schämen. Ihn auch nicht hassen. Ich wollte allein mit mir bleiben.
    Innere Unruhe, inneren Aufstand
hatte ich auch früher gekannt, aber das war gekommen und gegangen, als hätte
nur einen Augenblick das Bewußtsein ausgesetzt, wie eine Regung unerklärlichen
Trotzes gegen die Ordnung in mir. Das war jedesmal ein kurzes Straucheln
gewesen, das keine Spuren hinterließ. Diese Nacht aber schien es, als hätte
mich vollkommene Wirrnis getroffen, als wären alle Bande in mir gerissen, als
wäre ich nicht mehr das, was ich gewesen war. Ich erblickte eine Möglichkeit
meiner selbst, die zerstörerisch werden könnte, falls sie andauerte.
    Was ich zuerst fühlte, war Angst,
noch fern, aber tief, sicher wie die Gewißheit, daß ich für diesen Augenblick
würde zahlen müssen. Gott würde mich mit Gewissensqualen strafen, und es würde
nicht lange dauern, daß er Kunde von sich gäbe. Vielleicht noch diese Nacht,
vielleicht jetzt.
    Aber nichts geschah. Ich stand noch
an derselben Stelle, wie angewurzelt im Sand des Gartenweges, bestürzt und
müde, noch ein wenig heiß von dem Feuer, das in mir aufgeflammt war. Verzeih
mir, Gott, flüsterte ich
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