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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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1
    Bismilâhir-rahmanir-rahim! [1]
    Ich rufe zum Zeugen die Tinte und
die Feder und die Schrift, die aus der Feder fließt;
    Ich rufe zum Zeugen die schwankenden
Schatten des sinkenden Abends und die Nacht und alles, was sie lebendig macht;
    Ich rufe zum Zeugen den Mond, wenn
er schwillt, und die Morgenröte, wenn sie aufdämmert;
    Ich rufe zum Zeugen den Jüngsten Tag und die Seele, die sich selbst anklagt;
    Ich rufe zum Zeugen die Zeit, Anfang
und Ende aller Dinge – dafür, daß jeder Mensch immer Verlust erleidet.
    (Koran)
    Ich beginne diese meine Geschichte, die keinen Zweck
und Nutzen hat, weder für mich noch für andere, aus einem Bedürfnis, das
stärker ist als Nutzen und Vernunft, aus dem Bedürfnis, daß meine
Niederschrift, die aufgezeichnete Qual des Gesprächs mit mir selbst, bleibe und
von mir berichte, mit der vagen Hoffnung, daß sich eine Lösung finde, sobald –
wenn dies geschehen kann – die Summe gezogen, sobald die Spur der Tinte von mir
auf dieses herausfordernd leere Papier gebracht sei. Noch weiß ich nicht, was
hier geschrieben stehen wird. Doch in den Haken und Schleifen der Buchstaben
wird etwas von dem bleiben, was in mir war, und es wird nicht mehr untergehen
im brodelnden Nebel, als wäre es nie gewesen oder als wüßte ich nicht, was
gewesen ist. So werde ich sehen können, wie ich geworden bin, dieses Wunder,
das ich nicht kenne, und mir scheint, es ist ein Wunder, daß ich nicht immer
das war, was ich jetzt bin. Ich bin mir bewußt, daß ich verworren schreibe, die
Hand zittert mir, da mir das Rückschauen bevorsteht, da ich Gericht zu halten
beginne und dabei alles selbst sein werde: Richter, Zeuge und Angeklagter.
Alles will ich redlich sein, soweit ich das kann, soweit es überhaupt jemand
kann, denn ich fange an zu bezweifeln, daß Aufrichtigkeit und Redlichkeit
dasselbe seien; Aufrichtigkeit ist die Gewißheit, daß wir die Wahrheit sagen
(wer aber kann dessen gewiß sein?), und für Redlichkeiten gibt es viele
Möglichkeiten, und die vertragen sich nicht untereinander.
    Mein Name ist Ahmed Nurudin; man gab
mir ihn, und ich nahm ihn mit Stolz an; jetzt aber, nach der langen Reihe von
Jahren, die mit mir verwachsen sind wie meine Haut, denke ich an ihn mit
Verwunderung und zuweilen mit etwas Spott, denn Licht des Glaubens zu
heißen, das ist eine Anmaßung, die ich nicht einmal gefühlt hatte, deren ich
mich aber jetzt ein wenig schäme. Was bin ich für ein Licht? Womit bin ich
erleuchtet? Durch Wissen? Durch höhere Lehre? Durch ein reines Herz? Durch den
rechten Weg? Dadurch, daß ich nicht zweifelte?Alles ist fraglich geworden, undjetzt bin ich nur Ahmed, nicht mehr Scheich [2] , nicht mehr Nurudin [3] . Alles fällt
von mir ab wie ein Kleid, wie ein Panzer, und es bleibt, was vor allem anderen
da war: die nackte Haut, ein nackter Mensch.
    Vierzig Jahre zähle ich, ein häßliches
Alter – der Mensch ist noch jung genug, Wünsche zu haben, und zu alt, sie zu
verwirklichen. Da legt sich in jedem die drängende Unruhe, damit er für die
Zeit der Kraftlosigkeit, die ihm bevorsteht, stark werde durch Gewohnheit und
erworbene Sicherheit. Ich aber tue jetzt erst das, was ich längst hätte tun
sollen, damals, in der Vollblüte des Körpers, als all die zahllosen Wege gut
waren, alle Irrtümer ebenso nützlich wie die Wahrheiten. Schade, daß ich nicht
weitere zehn Jahre hinter mir habe, damit das Alter mich vor dem Aufbegehren
bewahrte, oder daß ich nicht zehn Jahre jünger bin, damit es mir nichts
ausmachte. Denn dreißig Jahre, das ist noch Jugend, so meine ich jetzt, da sie
auf Nimmerwiederkehr zurückgeblieben ist – Jugend, die sich vor nichts
fürchtet, auch nicht vor sich selbst.
    Ein seltsames Wort ist gefallen:
Aufbegehren. Und ich verhalte die Feder über dem Ebenmaß der Zeile, da, wo es
steht, leichtfertig ausgesprochen und zum Zweifel Anlaß gebend. Das erstemal
habe ich nun meine Qual so genannt, und niemals vorher hatte ich über sie
nachgedacht, sie niemals mit diesem Namen benannt. Woher kommt mir das
gefährliche Wort? Und ist es nur ein Wort? Ich habe mich gefragt, ob es nicht
besser wäre, dieses Schreiben abzubrechen, damit nicht alles schwerer würde,
als es schon ist. Denn wenn es auf unerklärlichen Wegen aus mir sogar das
herausholt, was ich nicht sagen wollte, was nicht mein eigener Gedanke war oder
doch mein mir selbst nicht recht bekannter Gedanke, der sich im Dunkel meines
Innern verborgen hatte, nun aber eingefangen wird von einem
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