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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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umarmen, ihn
küssen, ihm kluge Ratschläge geben, unter Tränen seine
knorrige Hand halten, ihm gerührt und wehmütig zuflüstern können: Mein Sohn!
Ich hätte wie ein Schwachsinniger meine Züge in seinem Gesicht suchen, ihn mit
dem letzten Bild von mir rühren können, das ihm in der Erinnerung bleiben
würde. Wahrhaftig, es ist besser, daß ihm etwas Schöneres und Klügeres in der
Erinnerung bleibt.
    Ja, ich stand über ihm, die Kerze in
der Hand, während er in dem festen, tiefen Schlafe lag, der nur den Jungen und
den Dummen gegeben ist, und vergebens suchte ich Zärtlichkeit in mir. Das Licht
hüpfte über die Wölbungen seines Gesichts, die kräftige Brust hob sich ruhig,
der breite Mund, der dem meinen ähnlich ist, lächelte, das Lächeln galt etwas
Zurückgelassenem, mit dem er noch verbunden war. Ich sagte mir: Er wird mich
an dieser Stelle und im Leben vertreten, vielleicht mein Fleisch und Blut, mein
früheres Ich; das Leben setzt sich fort. Aber nichts wogte in mir auf, der
Gedanke blieb gezwungen und kalt. Ich beugte mich hinab, ihn zu küssen oder
auch nur über sein Haar zu streichen. Ich tauge nicht zur Zärtlichkeit.
    Und trotzdem, ich wünsche dir Glück,
junger Mensch.
    Der Nachtwächter rief irgendwo Mitternacht aus.
Meine letzte Mitternacht, mein letzter Tag – an seinem Anfang steht mein Ende.
    Das weiß ich, doch seltsamerweise
scheint mir all das, was zu geschehen hat, ganz fern und ganz unwirklich. Im
tiefsten Innern glaube ich, daß es gar nicht geschehen wird. Ich weiß, es wird
geschehen, doch etwas in mir lächelt, wehrt sich, weist ab. Es wird geschehen,
aber es ist unmöglich. Was ich weiss, genügt nicht. Noch ist zuviel Leben in
meinem Herzen, und ich bin nicht bereit, es zu. begreifen. Vielleicht auch
deshalb, weil ich dies schreibe – ich gebe es nicht auf, ich schiebe den Tod
beiseite.
    Aber sobald ich die Feder weggelegt
habe, dauert es lange, bis ich sie wieder in die steif gewordene Hand nehmen
kann, weil ich auf einmal zu matt und zu willenlos bin, weil sich der feige
Gedanke regt, daß mein Tun überhaupt keinen Sinn hat. Und da ich dann ohne
Schutz bin, wird die Welt um mich herum wieder Wirklichkeit. Und die Welt ist
Stille und Finsternis.
    Ich bin aufgestanden und ans offene
Fenster getreten. Stille, Finsternis. Vollkommen, endgültig. Nichts und
niemand, wohin ich auch schaue. Auch die letzte Ader hat zu pulsen aufgehört,
erloschen ist das letzte Licht. Keine Stimme, kein Hauch, kein Funken.
    O Welt, o Ode, warum jetzt gerade
dies?
    Da regte sich in dieser Starre, in
diesem Tod, irgendwo eine Stimme, eine heitere, junge, reine Stimme, und begann
ein seltsames Lied zu singen, verträumt und leise, aber frisch und beharrlich.
Wie der Gesang eines Vogels. Und sie verstummte, so wie sie sich geregt hatte:
unerwartet, vielleicht getötet, wie ein Vogel.
    In mir aber blieb sie lebendig, sie
rührte mich, weckte mich, rüttelte mich auf. Diese ganz gewöhnliche unbekannte
Menschenstimme, die ich früher gar nicht beachtet hatte. Vielleicht drang sie
deshalb in mich, weil sie aus jener Welt in der Stille aufflatterte,
vielleicht, weil sie keine Angst zeigte oder weil sie Angst zeigte oder weil
sie sich mir kundtat, mitleidend und ermutigend.
    Verspätete Zärtlichkeit regte sich.
Du Mensch, der du in der beängstigenden Finsternis singst, ich höre dich.
Deine zerbrechliche Stimme scheint mir eine Lehre zu sein. Aber wozu jetzt?
    Wo bist du, Ishak, Aufrührer, wenn
es dich je gegeben hat?
    Ein grausamer Trug bist du, goldener
Vogel!
    Im Zimmer nebenan wacht Hafiz
Muhamed, vielleicht hat er es erfahren und wartet darauf, daß ich ihn rufe
oder zu ihm gehe, er läßt mich erst die Rechnungen mit mir selbst begleichen
und Gott um Gnade anflehen. Gewiß weint er ohnmächtige Greisentränen über das
Leid dieser Welt. Er bedauert alle Menschen. Er liebt sie nicht, und er tut das
auf die eine Weise, ich tue es auf eine andere. Darum sind wir vereinsamt.
    Aber vielleicht würde er mich anders
bedauern, auf besondere Art, vielleicht würde er mich aus dem allgemeinen
Jammer herausheben und mich aufnehmen wie der letzte Mensch den letzten
Menschen.
    Ich sollte ihm wohl sagen: Ich bin
allein, Hafiz Muhamed, allein und traurig, reich mir die Hand, und sei mir nur
für einen Augenblick Freund, Vater, Sohn, ein lieber Mensch, dessen Nähe mich
erfreut, laß mich an deiner verdorrten Brust weinen, und wein auch du, um
meinetwillen, nicht um aller Menschen willen, leg mir deine feuchte
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