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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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und war überrascht, daß sie nicht ganz die gewöhnliche
Geschichte erzählte, freilich auch keine ungewöhnliche, aber auch keine
langweilige; und es lohnte sich zuzuhören, lohnte sich eher, als sie anzusehen.
Meine Hoffnung hob plötzlich den Kopf.
    Sie erzählte – das allerdings wußte
ich schon – von dem seltsamen Schicksal ihres Bruders: wie er in Stambul
Schulen besucht hatte und zu einer hohen Stellung gelangt war, die sowohl
seinen Kenntnissen als auch dem Ansehen der Familie entsprach (das eine
überschätzte, das andere unterschätzte sie ein wenig, denn seine Stellung war
nicht so hoch, aber so glich sie Gewinn und Verlust aus). Alle seine
Angehörigen waren stolz auf ihn, vor allem der Vater. Dann aber geschah etwas
Unverhofftes, keiner konnte das erklären, keiner wußte den wahren Grund zu
sagen, nicht einmal Hasan selbst: Er veränderte sich vollkommen. Nichts mehr von
jenem prächtigen Jüngling – so als wäre er ihm nie begegnet, sagte sie.Und
alle fragten sich entsetzt, wohin sein Wissen verschwunden sei, von dem selbst
die Muderis [9] anerkennend sprachen, wie denn so viele Jahre einfach ausgelöscht
sein könnten, und wo das Böse seinen Anfang genommen habe. Er verließ den
Staatsdienst, ohne sich vorher mit jemand besprochen zu haben, kam hierher,
heiratete unter seinem Stand, begann sich mit einfachen Leuten zu befreunden,
fing an zu trinken und den Besitz zu verschleudern, zechte und lärmte mit
seinen Kumpanen in der Stadt, bei den Tanzmädchen (hier wurde ihre Stimme
leiser, schwankte aber nicht) und an anderen Orten, die man nicht einmal
erwähnen möchte. Und dann wurde er Viehaufkäufer (in ihrer Stimme lag
Widerwillen, beinahe Entsetzen), er holte Vieh aus Serbien und trieb es weiter
nach Dalmatien und Österreich, nicht auf eigene Rechnung, sondern für andere
Händler – als deren Knecht. Er richtete sich zugrunde, sein Besitz schmolz
dahin, die Hälfte seines mütterlichen Erbes verkaufte er, der Vater geriet ganz
außer sich, Hasans wegen lag er jetzt auch krank darnieder, umsonst hatte er
gebeten, umsonst gedroht, keiner konnte Hasan von jenem Weg abbringen. Und der
Vater wollte nun nichts mehr von ihm wissen, nicht einmal Hasans Namen durfte
man vor ihm aussprechen, so als gäbe es ihn nicht, so als wäre der Sohn
gestorben. Sie weinte sich die Augen vor dem Vater aus, aber nichts half. Dann
sagte sie das, was meine Aufmerksamkeit wachrief – die Zurna spielte ein Lied,
das aufhorchen ließ. Der Vater hatte beschlossen, ihn zu enterben, in Gegenwart
angesehener Leute ein Testament aufzusetzen und sich öffentlich von seinem Sohn
loszusagen. Damit dies nun nicht geschehe, damit es kein noch schlimmeres
Gerede gebe als jetzt, bat sie mich, wir möchten doch mit Hasan sprechen und erreichen,
daß er von sich aus, freiwillig, auf das Erbe verzichte; dann würde ihn nicht
der Fluch des Vaters treffen, und die Schande für die Familie wäre weniger
groß. Von alledem, fügte sie hinzu, wisse ihr Ajni Effendi nichts, er wolle
sich nicht in die Beziehungen zwischen Vater und Sohn einmischen, sie tue alles
aus eigenem Antrieb, um das Unglück zu verringern, wir aber könnten ihr sehr
helfen, ich und Hafiz Muhamed, denn Hasan besuchte, wie sie gehört hatte, oft
unsere Tekieh, und das sei ihr lieb, denn so spreche er wenigstens dann und
wann mit klugen und guten Menschen.
    Ich war ihr dankbar dafür, daß sie
sich vor mir so enthüllt hatte. Zwar bekundete sie damit, daß sie mich nicht
sehr schätzte, denn sie tat sich keinen Zwang an, doch das war mir gleich,
denn mir ging es um wichtigere Dinge.
    Ich segnete im stillen Hafiz
Muhameds zweifelhafte Krankheit, denn sie hatte mir eine Gelegenheit
verschafft, an die ich nicht einmal hatte denken können. Selbst ihr Vater hätte
auf dem Sterbebett keine besseren Gründe haben können, mir zu helfen. Es war
mir klar, daß Ajni Effendi von alledem wußte, daß er vielleicht sogar die
Worte ersonnen hatte, die seine Frau so reizvoll aussprach. Er mochte wohl wissen,
daß es nicht leicht sei, ohne stichhaltige Gründe den einzigen Sohn zu
enterben. Wäre er, wären sie sicher gewesen, so hätten sie sich wenig um das
Ansehen der Familie gesorgt und uns nicht zu Hilfe gerufen. Gut denn, dachte
ich, sah sie mit der Aufmerksamkeit an, die ich ihr am Anfang schuldig
geblieben war, und gab mir Mühe, daß mein Gesichtsausdruck nicht gar zu heiter
sei. Beide haben wir unsere Not, du und ich, mit den Brüdern. Du willst deinen
verderben, ich
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