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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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glich oder einer feinen Stickerei, mit Worten
und Fügungen, so ganz anders als draußen auf der Straße, ein wenig veraltet,
aber geschmückt, mit dem Duft dieser alten Gemächer und langen Überdauerns.
    „Es fällt mir nicht leicht, es zu
sagen, und ich würde nicht zu jedem davon sprechen. Aber du bist Derwisch, du
hast gewiß mancherlei gesehen und gehört und hast den Menschen geholfen, so
sehr du nur konntest. Und du weißt, daß in jeder Familie Dinge geschehen, die
keinem lieb sind. Du kennst meinen Bruder Hasan?"
    „Ja."
    „Von ihm möchte ich sprechen."
    So sagte sie gleich am Anfang alles
Nötige: schmeichelte ein wenig, bekundete Vertrauen, berief sich auf meinen
Stand, bereitete mich auf das vor, was sie sagen würde und was nicht schön war,
wobei sie alle Familien einbezog, damit ich nicht vergäße, daß nicht nur sie,
sondern auch viele andere mit schlimmen Dingen zu tun hätten; und obgleich das
Übel so noch größer wird, ist die Schande doch geringer, denn sie ist etwas Allgemeines,
und man kann ohne Anstoß von ihr sprechen.
    Dieser nutzlos schönen Einleitung
folgte die uns ausreichend bekannte Klage über das schwarze Schaf der Familie,
über die großen Hoffnungen, die es so schändlich zunichte mache. Dieses
verirrte Familienschaf nehme keinen Anstoß an seiner eigenen Schwärze, für die
Angehörigen aber bedeute das Kummer und Unglück, Schande vor den Menschen und
Bangen vor Gott. Dieses schöne Klagelied singt man uns zuweilen in aller Aufrichtigkeit,
in der Hoffnung auf Hilfe, die wir versprechen, aber selten gewähren; doch
meistens geht es nur darum, daß wir vor den Menschen Zeugen dafür seien, wie
sie alles nur Mögliche getan, selbst die Diener Gottes bemüht hätten – nicht
ihre Schuld also sei es, daß das Böse unausrottbar bleibe.
    Diese Geschichte kannte ich
auswendig, lange schon erzählte man sie uns, und meine Teilnahme schrumpfte sofort,
als ich sie hörte, ich lauschte ihr mit geheuchelter Aufmerksamkeit, meine
Gleichgültigkeit mit scheinbar wachem Gesichtsausdruck verdeckend. Ohne Grund
wartete ich auf etwas Ungewöhnliches, etwas nicht Alltägliches, etwas
Überraschendes. Nichts würde mich überraschen, sie würde genau das sagen, was
an die Reihe käme, würde sich über den Bruder beklagen und mich bitten, daß ich
mit ihm spreche, daß ich versuche, ihn zur Vernunft zu bringen. Ich würde
mitfühlend diese dem Scheine nach so kummervolle Beichte abnehmen und würde
versprechen, auf Gottes Hilfe bauend, alles zu tun, was in meiner geringen
Macht stehe. Und alles würde beim alten bleiben, sie würde ruhig sein, weil sie
ihre Pflicht erfüllt hatte und weil die Leute davon hören würden, ich würde mit
Hasan sprechen und mir Mühe geben, mich nicht lächerlich zu machen, Hasan würde
weiter so leben, wie es ihm gefiel, glücklich darüber, daß seine Familie
deswegen vor Wut schäumte. Und keiner würde von alledem Schaden haben. Auch
keinen Nutzen. Am wenigsten ich und mein eingesperrter Bruder. Denn sie sprach
ohne rechte Notwendigkeit, ohne Aussicht auf Nutzen und Erfolg, mit einem
lauen, für fremde Ohren bekundeten Gefühl gesellschaftlicher Verpflichtung. Und
ich sollte das verbreiten. Doch das war einfach eine Sache, die sich gehörte,
die man dem Ansehen der Familie schuldig war, eine Rechtfertigung für die, die
damit nichts zu tun haben wollten, die Abgrenzung von dem Schuldigen, sein
Ausschluß. Die Frau würde wenig gewinnen, nicht entfernt so viel, daß ich als
Gegenleistung Gnade für meinen Bruder hätte verlangen können. Solche
Familienabtrünnige, wie Hasan einer war, gab es jetzt immer mehr, sie schienen
der häuslichen Ordnung und des Ansehens ihrer Väter überdrüssig zu sein, und
Hasan war nur einer von vielen, das bedeutete auch keine besondere Schande,
sondern war eine Erscheinung wie so manche andere, denen der menschliche Wille
schwer gebieten kann.
    Ich vertiefte mich nicht in ihre
Geschichte, sie berührte mich nicht, ich kannte ihr Ende, sobald ich den Anfang
vernommen hatte. Ich hatte kein Mitgefühl für ihren Kummer, denn er war
unaufrichtig, zudem verstand sie Maß zu halten, sie wollte nicht übertreiben.
Nur auf das Aussprechen kam es ihr an. In dieser Erfüllung einer Pflicht, an der
das Herz nicht teilhatte, lag eine Achtlosigkeit, die man hinzunehmen hatte.
    Da ich schon keinen Grund und keine
Möglichkeit hatte, ihr aufmerksam zu lauschen, begann ich sie aufmerksam zu
betrachten. Ich tat das mit interessierter Miene,
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