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Jorina – Die Jade-Hexe

Jorina – Die Jade-Hexe

Titel: Jorina – Die Jade-Hexe
Autoren: Marie Cordonnier
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Auray im September 1364
    Blut! Überall war Blut. Seine Hände klebten davon, und ein ununterbrochener Strom rann über seine Schläfe weiter ins feuchte Moor. Es war sein Leben, das da versickerte, aber es kümmerte ihn nicht. Er raffte seine ganzen Kräfte zusammen und hob den Kopf. Es ging überraschend leicht, und erst in diesem Moment begriff er, dass er den schweren dunklen Helm mit dem Stern nicht mehr trug. Ja, dass ihn auch keine Rüstung schützte. Kein Waffenrock, kein Kettenhemd, keine Beinschoner! Nicht einmal mehr die Stiefel, von den Waffen ganz zu schweigen.
    Seine bloßen Füße gruben sich in den weichen Untergrund, und in der hereinbrechenden Dämmerung verschwammen die Konturen. Nur der Lärm sagte ihm, was geschah. Die Schlacht war noch immer in vollem Gange! In seiner unmittelbaren Nähe brüllten Männer, wieherten Pferde und klirrten die Waffen. Wieso an dieser verfluchten Stelle? Wieso mitten im Sumpf? Das durfte nicht sein!
    Er wollte das Blut vom Gesicht wischen und keuchte unter dem jähen, glühenden Schmerz auf, der aus seiner rechten Schulter stieg. Den Schlag verspürte er erst einen halben Herzschlag später. Fassungslos starrte er auf den Pfeil, der unterhalb seines Schlüsselbeines steckte und wie ein lebendiges Wesen nachwippte.
    Der schurkische Schütze war nirgendwo zu entdecken. Die kahlen Finger der Weiden hoben sich gespenstisch gegen das hereinbrechende Dunkel ab, und eine Welle rot flammenden Schmerzes drohte ihn zu Fall zu bringen. Mit einem hässlichen Fluch packte er den Schaft des Pfeiles und riss ihn unter Aufbietung aller Kraft aus der Wunde.
    Es war das Letzte, woran er sich erinnerte. Er brach in die Knie und fiel mit einem Seufzer vornüber in den Sumpf. Sein Blut sickerte in die Erde, für die er gekämpft und verloren hatte.
    Er sah den Mann nicht mehr, der zufrieden hinter der alten Weide hervortrat und den zweiten Pfeil wieder in den Köcher steckte. Er hatte sein Werk schon mit dem Ersten getan.
    »Öffne die Hände!«
    Jorina zögerte. Was erwartete sie? Schläge mit der Weidenrute? Hatte die Äbtissin von den Äpfeln erfahren, die sie der alten Berthe heimlich zusteckte? War sie einmal mehr mit den gnadenlos strengen Regeln der frommen Dame in Konflikt geraten? Sosehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht, den Sinn all dieser Vorschriften zu erkennen, die augenscheinlich nur dazu dienten, das Leben noch ein wenig karger und freudloser zu gestalten.
    Nein, es musste eine schlimmere Verfehlung sein, deretwegen man sie ausgerechnet in die düstere Krypta des Klosters bestellt hatte, während alle anderen Nonnen oben in der Kirche für die armen Seelen beteten, die vor Auray kämpften. Sie erschauerte in der feuchten, moderigen Luft, die sogar das Licht der einzigen Kerze zu ersticken drohte, die im Leuchter auf dem groben Tisch brannte. In dem unruhigen Flackern funkelte ein goldenes Kreuz auf und ein seltsames Werkzeug, aber sie wagte nicht genauer hinzusehen.
    Sie hatte gelernt, dass es nur Ärger brachte, Mutter Elissas Befehlen offen zu trotzen. Sie streckte ihr ergeben die nicht sehr sauberen Handflächen entgegen und wappnete sich gegen den kommenden Schmerz. Sie schlug die Augen nieder, nicht aus Frömmigkeit, sondern weil der Anblick des strengen Frauengesichtes sie noch mehr in Angst versetzte.
    Das Gefühl des kalten, kantigen Steins, der in ihre Handflächen fiel, war so überraschend, dass sie ihn um ein Haar hätte fallen lassen. Oval, von der Größe eines Wachteleies, war er rundherum in Facetten geschliffen; das bisschen Licht zauberte die tiefgrünen Reflexe eines nächtlichen Waldes auf die glatten Flächen.
    »Wie schön!« hauchte sie, von der unerwarteten Pracht fasziniert.
    »Es ist Jade«, sagte die Äbtissin mit ihrer kühlen, beherrschten Stimme, die niemals Gefühle verriet. »Er gehört dir. Nimm ihn!«
    »Aber ...«
    »Gehorche!«
    Wie üblich, wenn Mutter Elissa diesen Ton anschlug, zuckte sie zusammen. Die fromme Frau hatte ihr vor drei Jahren Zuflucht, Schutz und Zukunft gewährt, doch einzig und allein, weil sie es als christliche Pflicht ansah. Die Äbtissin von Sainte Anne d’Auray belastete ihr gottesfürchtiges Herz nicht mit so unnützen Emotionen wie Freundlichkeit oder Zuneigung. Sie verlangte Unterordnung.
    »Nimm dieses Juwel und verlasse das Kloster auf der Stelle durch den Obstgarten, solange noch Zeit dafür bleibt. Ich kann nicht mehr für dich tun. Ich hatte gehofft, deine Seele Gott zu weihen, damit du für
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