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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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1. Buch
     
    Kapitel 1: Die Welt steht kopf
     
    Als es ihr den Lenker quer zur Fahrbahn verdrehte und der Schwung der Abfahrt sie aus dem Sattel hob, da wusste Nelli Prenz, dass dieser Unfall nicht glimpflich ausgehen würde. Ihr Fahrrad war schwer, und die prall gepackten Satteltaschen hingen wie Bleigewichte daran. Bloß nicht darunter begraben werden, dachte sie noch, als sie jenseits der Baumgrenze von der von Geröllfeldern gesäumten Passstraße abkam, da flog sie schon steil bergab und sah das Fahrrad samt Gepäck plötzlich über sich.
    Sie schlug auf dem Rücken auf, spürte einen reißenden Schmerz in der Schulter und wehrte das Fahrrad mit Händen und Füßen ab, als es auf sie zustürzte. Sie hört das Scheppern der Metallteile, ein Klirren in den Taschen und wurde selbst weiter nach unten gerissen, übers Geröll den Abhang hinab. Nach zwei Drehungen seitwärts explodierten grelle Lichter vor ihrem Sichtfeld und erloschen in Schwärze.
     
    Nelli erwachte, weil ihr die Sonne auf die geschlossenen Augen schien. Mit der Erinnerung an den Unfall kamen die Schmerzen: ein Brennen in der Schulter, ein Stechen im rechten Handgelenk und ein harter, dröhnender, feuriger Schmerz am Handballen. Mit der Rechten hatte sie versucht, den Sturz abzufangen. Dann war sie mit dem Kopf aufgeschlagen.
    Sie betrachtete ihren Handballen. Dreck und Split steckten in der zerschrammten Haut. Gedankenverloren pulte Nelli die Steinchen aus der Wunde. Wo war das Desinfektionsmittel? In der hinteren Seitentasche der rechten Gepäckträger-Packtasche? Wenn das Fläschchen nur nicht zerbrochen war!
    Nelli schaffte es in die Hocke, spürte Übelkeit, ließ sich auf den Hintern sinken und wartete darauf, dass sich ihr rebellierender Magen beruhigte.
    Unter ihr verlief die Straße. Für einen Moment verwirrte sie das. War sie nicht von der Straße hier heruntergestürzt?
    Ihr Fahrrad sah sie nicht.
    Nelli stand mühsam auf und drehte sich um zum Steilhang. Ein großer Felsen versperrte ihr die Sicht.
    Sie stieg um den Steinklotz herum und hinauf. Dort oben stand sie wie auf einer Aussichtsplattform und übersah den Verlauf der Serpentine. Felsen, Steine, Geröll – aber kein Fahrrad.
    „Das gibt’s doch nicht, verflucht noch mal! Da komm ich ungeschoren durch die Bronx und die Favelas von Rio, aber auf einem menschenleeren Alpenpass klaut mir jemand das Fahrrad samt Gepäck!“
    Sie war den Tränen nahe. Bargeld und Mastercard hatte sie zwar noch, sie ertastete den Bauchbeutel über ihren Jeansbund und war erleichtert darüber, dass der Dieb ihr vom Leib geblieben war. Aber die Packtaschen steckten voll unersetzlicher Erinnerungsstücke. Ihr Tagebuch war auf Hunderten von Seiten vollgekritzelt mit zigtausend Reiseerlebnissen und Lebenseinsichten, die längst vergessen und ohne das Tagebuch für immer verloren waren.
    Und das Fahrrad selbst war nicht nur Transportmittel, sondern Heimat und Freund und Rettungsanker. Sie hatte verdammt noch mal auf diesem Fahrrad und mit ihren Schätzen im Gepäck am Ortsschild ihrer Heimatstadt vorbeirollen und heimkehren wollen und nicht mit leeren Händen in einem Bus oder Eisenbahnabteil oder gar per Anhalter. Sieben Jahre lang unterwegs, und in den letzten vier Wochen, fast zu Hause, passierte, was sie immer hatte verhindern können, selbst in Städten wie Bombay, Nairobi, Mexiko City...
    „Ach scheiße!“
    Sie schrie es hinaus.
    Kopfschmerzen, Übelkeit und Schürfwunden waren jetzt unwichtig. Sie hatte ihre Reise verloren.
     
    Vor sieben Jahren, vor ihrem Ausstieg, hätte sich Nelli irgendwo zusammengerollt und geheult. Und sich dann in ihr Schicksal gefügt.
    Die Weltreiseheimkehrerin Nelli Prenz dachte nicht daran, klein beizugeben. Sie musste zur Polizei. Der Dieb würde mit ihren Sachen nichts anfangen können. Vielleicht hatte er das meiste längst weggeworfen.
    Sie tastete sich den Geröllhang hinunter, erreichte die Straße über einen Graben hinweg mit einem Sprung und trottete bergab. Was hatte sie sich gestern bei der Schufterei zum Pass hoch auf die Abfahrt gefreut – und nun also Fußmarsch.
    Die dritte Serpentine führte sie aus dem Schatten einer Felswand heraus, und es öffnete sich der Blick ins Tal, das von hier oben, in 2.500 Metern Höhe, nur als grüner Schimmer im Dunst des Morgennebels zu erahnen war. Nur zwei Serpentinen weiter stand ein aus Geröllbrocken gebautes Unterkunftshaus, und davor parkten drei Autos.
    Das Gebäude lag wie am Rande eines Tabletts auf einem
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