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Niemand lebt von seinen Träumen

Niemand lebt von seinen Träumen

Titel: Niemand lebt von seinen Träumen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    »Nö – unser Pott macht doch keine Hafenrundfahrten. So wat machen die lütten Barkassen, die Sie da drüben sehn. Wir fahren rüber – rüber über'n großen Teich.«
    Susanne sah den großen, baumlangen, schlaksig wirkenden Matrosen mit ihren großen braunen Augen von unten herauf kritisch an und zuckte mit den Schultern. Sie stellte ihr kleines, schon etwas abgewetztes Pappköfferchen neben sich auf das Kopfsteinpflaster, schlug den Mantelkragen hoch und steckte ihre Hände tief in die seitlich angebrachten Taschen. Vom Meer her wehte eine steife Brise über die Mole. Es war immerhin schon Oktober, und wenn auch heute zeitweise die Sonne schien, so hatten ihre Strahlen doch weitgehend ihre wärmende Kraft verloren.
    Wegen so einer könnte man direkt zur Landratte werden, dachte Pit für sich, während er seine Blicke wohlgefällig über die Figur des vor ihm stehenden Mädchens, das ihn so selbstbewußt angesprochen hatte, wandern ließ. Von der christlichen Seefahrt scheint sie allerdings nichts zu verstehen. Hält unseren Überseedampfer für ein kleines Ausflugsbötchen. Weiß anscheinend auch nichts davon, daß unsere ›Giesela Russ‹ überhaupt der erste Dampfer ist, der nach dem Krieg wieder unter deutscher Flagge nach Amerika fährt. Und die frische Seeluft scheint ihr auch nicht besonders zu gefallen.
    So jedenfalls stand Susanne jetzt vor ihm: die Schultern fröstelnd nach oben gezogen und den leichten grauen Mantel bis zum Halskragen zugeknöpft.
    »Heißt das, daß Sie nach Amerika fahren?«
    »'türlich«, brummte Pit und spuckte auf die Straße. Seine alte Pfeife, die ihn schon zu lange auf so vielen Fahrten begleitet hatte, näßte verteufelt. »Als hätt' man 'nen Prim im Maul«, sprach er zu sich selbst.
    »Nord, Mittel oder Süd?« fragte das Mädchen weiter.
    »Was? Nord?« Der Matrose sah verständnislos auf Susanne hinunter.
    »Nord-, Mittel- oder Südamerika?«
    »Nordamerika – direkt nach New York«, antwortete Pit; nun schon etwas unwilliger. Ist doch nichts mit den Weibern. Was die immer alles wissen wollen. Kommt da so 'ne Puppe und fragt einem Löcher in die Hose. Ist einer denn ein Auskunftsbüro, nur weil er eine Matrosenuniform trägt? Dafür sind doch die geschniegelten Bürschchen in den Büros der Reederei da.
    Pit spuckte wieder auf das Pflaster und steckte dann seinen Pfeifenkolben in die Tasche. Ekelhafte Pfeife. Von der nächsten Heuer gibt es eine neue. Vielleicht in New York oder in Bridgeport. Natürlich aus Geschäften, von deren Existenz in verwinkelten Hafengassen nur die erfahrenen Seeleute wissen. Von der Stecknadel bis zur kompletten Seemannsausrüstung bekommt man dort weit unter Preis alles, was das Herz begehrt, solange man bar bezahlt und nicht fragt, wo die Ware her ist. Wen interessiert letzteres auch schon?
    Mit diesen Überlegungen beschäftigt, drehte sich Pit um, schlenderte auf einen der großen Lagerschuppen zu und verschwand in einer Seitentür, die groß die Aufschrift ›Interfracht‹ trug. Er hatte sich nicht einmal mehr umgesehen.
    Wie konnte er auch ahnen, daß er soeben Schicksal gespielt hatte? Gerade er, der am wenigsten dazu geeignet war. Der selbst nie Glück im Spiel hatte, und bei dem es nie zu einer großen Liebe gereicht hatte. Aber so ist es nun einmal im Leben – ehe man sich versieht, muß man ungefragt eine neue Rolle spielen. Wenn Pit in diesem Moment gewußt hätte, daß das Stück, in dem er einen Part zugeteilt bekommen hatte, gerade erst begann …
    Susanne sah dem Matrosen nach und schüttelte lächelnd den Kopf. Na, dann eben nicht, dachte sie und nahm ihr Pappköfferchen wieder auf. Wenn ein Mädchen allein in Bremerhaven im Hafenviertel steht und sich scheinbar unverbindlich nach einem Schiff erkundigt, so mußte das doch ungewöhnlich sein. Aber dafür hatte dieser einsilbige Matrose wohl kein Gefühl. Nicht einmal von dem Koffer hatte er Notiz genommen.
    Ehe Susanne weiterging, blickte sie noch einmal hinüber zur Mole und musterte die ›Giesela Russ‹. Ist das der Dampfer, der mich hinüberträgt? fragte sie sich. Habe ich diesmal mehr Glück als bisher?
    Abrupt wandte sie sich ab. Nicht mehr an das Zurückliegende denken. An die vielen Tage der Hoffnung, an die vielen Nächte der Sehnsucht. An die gescheiterten Pläne. Bloß nicht bange machen lassen. Wenn jemand so viel wagen will, darf er nicht die Nerven verlieren. Nur wenn ein Mensch unbeirrt auf sein Ziel zusteuert, erreicht er es.
    Den Koffer, der nicht
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