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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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herbstlichen Ebene, wo die Feuer der feindlichen
Lager rauchten. Sie gehorchten mir, ich war überzeugt, daß alle so dachten wie
ich, wir nahmen nach dem göttlichen Gebot die Waschung vor, mit Sand und
Staub, denn Wasser gab es nicht, ich rief, ohne die Stimme zu dämpfen, zum
Gebet, wir knieten nieder, sprachen das Morgengebet, zogen uns, damit wir
leichter wären, aus, bis wir nur noch die weißen Hemden trugen, und mit
gezückten Säbeln traten wir, gerade als die Sonne über der Ebene aufging, aus
dem Wald. Ich weiß nicht, wie wir aussahen, erbärmlich oder schrecklich, ich
dachte nicht darüber nach. Ich spürte nur grenzenloses Feuer im Herzen und
grenzenlose Kraft in den Gliedern. Später war mir, als hätte
ich, gleichsam zuschauend, diese Kette junger Menschen gesehen, in weißen
Händen, mit entblößten Armen, die Säbel schwingend, auf deren Klingen die
Morgensonne blitzte, als hätte ich sie, Körper an Körper, über die Ebene
schreiten sehen. Es war der reinste Augenblick meines Lebens, das tiefste
Selbstvergessen, ein verlockendes Blitzen, eine feierliche Stille, in der nur
mein Schritt zu hören ist, meilenweit. Kara-Zaim wunderte sich, als ich ihm das
einmal sagte, er hatte gemeint, nur er wisse, was ein Krieger denkt. (Nichts
wünsche ich mir jetzt so sehr wie dieses Gefühl; aber ich kann es nicht
zurückholen.) Sie fürchteten uns, lange wichen sie vor uns zurück, lange
belauerten sie uns, doch ihrer waren viele, weit mehr als wir, und es begann
ein blutiges Gemetzel, das gar mancher Mutter bitteres Leid brachte, auf ihrer
Seite wie auf unserer. Ich war der erste, und als erster stürzte ich, zerhauen,
durchbohrt, gefällt, aber nicht schnell, nicht sofort. Lange bahnte ich mir den
Weg mit dem blutigen Säbel, alles, was kein weißes Hemd trug, durchbohrend und
niederhauend, doch immer weniger weiße Hemden waren zu sehen, sie wurden rot,
wie meines. Der Himmel über uns war ein rotes Tuch, die Erde unter uns eine
rote Tenne. Rot blickten wir, rot atmeten wir, rot schrien wir. Und dann
verwandelte sich alles in Schwarz, in Stille. Nichts war mehr da, als ich
aufwachte, außer der Erinnerung in mir. Ich schloß die Augen und belebte wieder
den großen Augenblick, wollte nichts wissen von der Niederlage, von den Wunden,
vom Untergang der herrlichen Menschen, wollte nicht glauben, daß sich zehn
Mann kampflos ergeben hatten, wies das Wirkliche zurück, es war häßlich,
krampfhaft suchte ich das Bild vom großen Opfer zu bewahren, in Blitzen und
Feuer, ließ nicht zu, daß es verblich. Später, als die Täuschung verschwand,
weinte ich. Im Frühjahr kehrte ich auf schlammigen Wegen aus der Gefangenschaft
nach Hause zurück, ohne Säbel, ohne Kraft, ohne Heiterkeit, ohne mein früheres
Ich. Ich hütete nur meine Erinnerung wie einen Talisman, aber auch sie verlor
die Kraft, verlor Farbe, Frische, den Mut und den früheren Sinn. Ich schleppte
mich stumm durch den Morast der düsteren Ebenen, übernachtete stumm auf
Heuböden und in Herbergen, wanderte stumm im Frühlingsregen, die Richtung
erratend wie ein Tier des Waldes, vorwärtsgezogen von dem Wunsch, in der Heimat
zu sterben, unter den Menschen, die mir das Leben gegeben haben.
    Ich erzählte dem Jüngling mit
einfachen, gewöhnlichen Worten, wie ich in jenem Frühling vor zwanzig Jahren
ins Dorf gekommen war. Ich erzählte es ohne Grund, meinetwegen, so als spräche
ich mit mir selbst, weil es ihn nichts anging. Doch ohne ihn hätte ich es nicht
erzählen, nicht mit mir selbst sprechen können. Ich hätte an den morgigen Tag
gedacht.
    Er sah mich ernsthaft und verwundert
an.
    „Und wärst du gesund und frohen Muts
gewesen, so wärst du nicht nach Hause gekommen?"
    „Wenn alles getrogen hat, sucht der
Mensch eine Zuflucht, als kehrte er zum Mutterleib zurück."
    „Und später?"
    „Später vergißt er. Die Unruhe
treibt ihn. Der Wunsch, das zu sein, was er nicht war, oder auch das, was er
war. Er verläßt den Weg, der ihm vorgezeichnet war, und sucht einen
andern."
    „Dann ist er unglücklich, wenn er
meint, er müsse den rechten Weg immer anderswo finden, dort, wo er selbst nicht
ist."
    „Vielleicht."
    „Aber das Strahlen und Blitzen auf
dem Schlachtfeld, das versteh ich nicht. Und warum ist das der reinste
Augenblick im Leben?"
    „Weil der Mensch sich selbst
vergißt."
    „Was hat er davon, und was hat ein
anderer davon?"
    Dieser da wird nichts von unseren
Begeisterungen kennen, ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.
    „Was
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