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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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Aufmerksamkeit
ihm die Befangenheit nahm:
    „Du siehst mich so seltsam an; es
ist, als erkennst du mich."
    „Ich erinnere mich an einen jungen
Menschen, der geradeso in die Stadt gekommen ist, vor langer Zeit."
    „Was ist mit ihm?"
    „Er ist alt geworden."
    „Ich wünsch ihm, es möge das einzige
Übel sein."
    „Bist du
müde?"
    „Warum
fragst du?"
    „Ich möchte
mich mit dir unterhalten."
    „Das können
wir, o ja, die ganze Nacht, wenn du willst."
    „Wer ist
dein Vater?"
    „Emin
Bošnjak."
    „Dann sind
wir ja Verwandte. Nahe Verwandte."
    „Ja"
    „Warum sagst
du das nicht gleich?"
    „Ich hab
gewartet, daß du danach fragst."
    „Wie alt
bist du?"
    „Zwanzig."
    „Noch nicht
zwanzig."
    „Neunzehn."
    Ich war
aufgeregt, etwas würgte mich in der Kehle. Wir sprachen von ihm, von
dem alten Hodscha, von Menschen, die ich kannte, und gingen so im Kreis
um das herum, was mich einzig beschäftigte. Eigentlich wollte ich nichts
erfahren, sondern ich wollte, daß wir sprechen, wollte noch einmal an
alles rühren, da schon das Wunder geschehen war, daß das Schicksal ihn mir
gerade in dieser Nacht schickte, wollte eintauchen in die Erinnerung an
das, was ein einziges Mal Wirklichkeit gewesen und jetzt nur ein
Schatten ist. Aber ich habe nichts anderes. Geblieben ist das Fremde.
    Geblieben
ist das Entsetzen.
    „Wie geht
es meinem Vater und meiner Mutter?"
    „Ganz gut.
Es könnte schlimmer sein. Das Unglück mit Harun hat sie hart
getroffen. Und uns alle. Sie sind jetzt ein bißchen ruhiger geworden, aber sie
härmen sich noch, verrichten nur das Nötigste, dann sitzen sie da und
schauen ins Feuer. Es ist halt der Schmerz."
    Er lachte.
Ein klingendes, fröhliches Lachen.
    „Entschuldige.
Das kommt bei mir ganz von selbst, auch wenn ich traurig
bin. Na, so leben sie. Die Leute helfen ihnen, so gut sie können.
    Und sie
haben auch noch von dem, was du ihnen geschickt hast."
    „Was habe
ich geschickt?"
    „Gold.
Fünfzig Groschen. Bei uns ist das ein wahrer Reichtum. Und sie brauchen ja
nicht viel, sie essen wie die Vögel, flicken was sie haben. Nicht das ist das
schwerste."
    Wer hat die
fünfzig Groschen geschickt? Gewiß Hasan. Dies ist eine Nacht der
unnützen Zärtlichkeit, eine Nacht, da ich viel Schönes erfahre, bevor ich
das Schlimmste erfahre. Lange hat mich die Zärtlichkeit nicht besucht,
und sie wird es nie wieder tun.
    Warum scheue
ich mich, bis zum Ende zu gehen? Morgen wird es für mich keine
Zärtlichkeit mehr geben. Da wird geschehen, was geschehen muß.
    „Und deine
Eltern, wie geht es ihnen? Wie geht es Emin?"
    „Gesund sind sie, soweit geht's
ihnen gut, Gott sei Dank. Aber sonst lebt sich's nicht leicht – entweder das
Wasser überschwemmt die Felder, oder die Sonne verbrennt sie. Bloß, mein Vater
hat so ein gutes Gemüt, da geht alles leichter. Mit der Armut hab ich schon die
eine Not, sagt er, und eine zweite hätt ich, wenn ich mich noch drum grämte.
Na, und so ist halt auch die eine Not nicht ganz so groß."
    „Und deine Mutter? Weiß sie, daß du
zu mir gegangen bist?"
    „Freilich. Wie sollt sie's nicht
wissen! Der Vater sagt: Er hat seine eigenen Sorgen – da meint er dich. Und die
Mutter: Wird ihn ja nicht auffressen – da meint sie mich."
    „Ist sie älter geworden?"
    „Nein."
    „Sie war schön."
    „Erinnerst du dich denn?"
    „O ja "
    „Noch jetzt ist sie schön."
    „Damals kam ich aus dem Krieg.
Zwanzig Jahre ist das her."
    „Du warst verwundet."
    „Wer hat dir das erzählt?"
    „Die Mutter."
    Ja, ich erinnere mich. An alles
erinnere ich mich heute abend. Zwanzig Jahre war ich damals alt, oder ein
bißchen darüber, ich kam aus dem Krieg, aus der Gefangenschaft zurück, meine
Wunden waren b f risch vernarbt, eben erst verheilt oder noch nicht
ganz verheilt, ich war stolz auf mein Heldentum und traurig über etwas, wovon
ich nach allem nicht mehr sagen konnte, was es war. Vielleicht die Erinnerung,
die ich immer von neuem beschwor, vielleicht die Feierlichkeit des Opfers, das
uns zum Himmel emporgehoben hatte, so hoch, daß es uns später schwerfiel, auf
der Erde zu gehen, als gewöhnliche Menschen mit leerem Herzen.
    Ein Tag aber hob sich ab von den
andern.
    Selbst im Traum stand mir das Bild
deutlich vor Augen, wie wir am frühen Morgen, da wir wußten, daß wir umzingelt
waren und daß es keine Rettung für uns gab, beschlossen, als Kämpfer des einen
Gottes zu sterben. Fünfzig Mann waren wir, auf einer Lichtung an einem bewaldeten
Berghang über der verödeten
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