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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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mir lieb ist, denn es macht mich traurig. Oft
hat sie von mir gesprochen, das heißt, sie hat an mich gedacht. Und sie
vertraut mir ihren Sohn an, den einzigen, ich soll ihm helfen, damit er nicht
im Elend des Dorfes bleibt. Sie liebt ihn, gewiß, liebt ihn so sehr, daß sie
selbst in die Trennung willigt, nur um ihn vor dem Schmutz und der Unsicherheit
des dörflichen Lebens zu bewahren. Vielleicht bin ich auch daran schuld, daß
sie die Kinder in die Stadt schicken – was sie von mir hören, verführt sie
dazu.
    Du wirst es bereuen, schöne Frau,
wenn du es hörst.
    Ich weiß nicht, wie sie jetzt
aussieht, meiner Erinnerung hat sich ihre Schönheit eingeprägt. Und der
Ausdruck des Leides in ihrem Gesicht, einem Gesicht, wie ich es nie wieder sah
und das ich auch lange nicht vergessen konnte, denn für das Leiden war ich die
Ursache gewesen. Wegen dieser Frau, der einzigen, die ich im Leben geliebt
habe, heiratete ich nicht. Ihretwegen, die ich verloren habe, ihretwegen, die
mir weggenommen worden ist, wurde ich härter und verschlossener gegen
jedermann; ich fühlte mich beraubt und gab das, was ich ihr nicht hatte geben
können, auch anderen nicht. Vielleicht nahm ich Rache an mir selbst und an den
Menschen, ohne es recht zu wollen und ohne es zu wissen. Sie tat mir weh, sie,
die nicht mehr Gegenwärtige. Und dann vergaß ich, wahrhaftig, aber für alles
war es zu spät. Schade, daß ich meine unausgeschöpfte Zärtlichkeit niemandem
sonst schenkte, den Eltern, dem Bruder, einer anderen Frau. Aber vielleicht
habe ich gar keinen Grund, das jetzt zu sagen, da ich die Summe ziehe. Denn
auch sie habe ich verlassen und bin in den Krieg gezogen, ohne sie zu bedauern,
und das Bedauern kam, als ich nichts mehr ändern konnte.
    Am dritten Tag nach meiner Rückkehr
stahl ich mich, zermürbt von der Aufmerksamkeit und der Besorgtheit meiner
Eltern, am Morgen von zu Hause fort und geriet auf eine Hochfläche oberhalb des
Dorfes, über dem Wald, über dem Fluß, in karstiger Öde, über der nur die Adler
kreisen, ich strich mit der Hand über die behauene Seite eines großen
Grabsteins, der einsam zwischen den Wüsten des Himmels und der Erde lag, in der
Ruhe der Jahrhunderte, von keinem entdeckt, ich horchte, wollte die Stimme des
Steines oder des Grabes vernehmen, als läge unter ihm das Geheimnis des Lebens
und des Todes verborgen, ich ließ mich nieder über dem Abgrund, über der Unendlichkeit
der Wälder und des Karsts, lauschte dem Schlangenzischen des Höhenwindes in der
doppelten Einöde der Einsamkeit und des Nichtbestehens, wie der uralte Tote
unter der Platte. „He!" rief ich ihm
zu, dem Fernen, in die Leere der Zeiten, und die Stimme taumelte über das
spitze Gestein. Einsame Stimme und einsamer Wind.
    Dann stieg ich hinab in den Wald,
stieß mit der Stirn an die Borke der Stämme, zerschlug mir die Knie an
knorrigen freiliegenden Wurzeln, ließ mich von den ausgebreiteten Armen des
dichten, struppigen Unterholzes aufhalten, umschlang Buchenstämme und lachte,
stürzte nieder und lachte, stand auf und lachte. „He!" rief ich jenem
Fernen, Einsamen zu, der auf den Höhen bleiben wollte, wenn ihn auch das Grab
einschloß. „He!" rief ich und lachte und rannte davon.
    Ich machte einen weiten Bogen um ihr
Dorf, damit ich sie nicht sähe, stieg weiter hinab bis zum Fluß, hier gab es
keine Einsamkeit, doch ich hatte sie von oben mitgebracht, hatte sie aus der
Ferne mitgebracht, ich wanderte an dem ebenen Ufer entlang und trat ins seichte
Randwasser, stieg hinein und wieder heraus, wie betrunken, ganz benommen vom
leisen Glucksen der Schnellen, ich stand bis zu den Knien im Wasser und
stellte mir vor, wie ich unterginge, immer tiefer, in einen Strudel gezogen
würde, immer tiefer, das Wasser bis zum Kinn, bis zum Mund, über dem Kopf
zusammenschlagend, über mir das rauschende, strömende Wasser, um mich herum
grünliche Stille, flutendes Gras legt sich mir um die Beine, flutend auch ich –
wie die Halme –, Fischlein schwimmen mir zum Mund hinein und zu den Ohren
hinaus, Krebse fassen mit ihren Scheren nach meinen Zehen, an meiner Hüfte
reibt sich gemächlich ein großer, träger Fisch. Stille. Nichts lockt, nichts
bewegt mich. „He!" schrie ich ohne Stimme, und ich ließ mich in einem
Wäldchen zwischen dem Fluß und dem Weg nieder, zwischen Leben und Tod.
    Kein Mensch tauchte auf, keiner kam
hierher in die Senke zwischen zwei Dörfern, die Menschen waren auf den Feldern
oder machten sich ums Haus zu
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