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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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ich die Augen schließen und
dich noch näher fühlen und noch deutlicher sehen könne. Warum weinst du?"
    „Sprich weiter, sag, wie du an mich
gedacht hast."
    Sie saß auf der Erde, ihre Wangen
waren blaß, unter den Augen lagen tiefe Schatten von den Wimpern, ich sah ihre
Knie im Grase zittern, neben ihnen lagen die Hände, sie berührten leicht die
Halme – wie es eben noch die meinen getan hatten.
    „Warum bist du gekommen?"
    „Willst du, daß wir zusammen in die
Welt ziehen? Alles will ich verlassen, will mit dir fliehen."
    Schon ein paar Tage war sie die Frau
eines andern, die Spuren fremder Hände lagen auf ihr, ein fremder Mund hatte
das Puder von ihr gewischt.
    Ich sagte ihr das – schauernd.
    „Gerade darum", erwiderte sie
unverständig, unverständlich.
    Ich packte sie an den Armen wie ein
Ertrinkender, sie, die Frau eines andern, das war mir gleich, sie war die
meine, von jeher, ich fragte mich nicht, was von jeher gewesen sei, ich wußte
nur von diesem Augenblick, dem einzig wichtigen, der die Zeit tilgte und die
Trauer, die zitternden Finger bohrten sich wie Nägel ein, keiner hätte sie mir
lebendig entreißen können, wie mit scharfen Krallen hielt ich sie an die Erde
geklammert, der Fluß verstummte, nur meine Glocken klangen, die Glocken, die
ich noch nicht kannte, die noch nicht bewegt worden waren, alle Glocken, wie
zum Aufstand rufend, Menschen würden herbeilaufen, sie kümmerten mich nicht, es
gab keine Menschen, o mein Traum, der du zum Opfer geworden bist.
    Dann verstummten die Glocken, das
Wirkliche kehrte zurück, ich tat die Augen auf und sah sie als Neugeborene oder
als Erstickte, hingestreckt, weiß im giftgrünen Gras, in einen weißen
Kieselstein verwandelt, in die Erde gewachsen, Nieswurz blüht ihr unter der Schulter
hervor, Schneeglöckchen zwischen den Schenkeln, Büschel von Pappelkätzchen
streichen ihr über die helle Haut; sollte ich sie von all dem, was wuchs,
zudecken lassen oder sie in einen tiefen Strudel legen oder auf die kahle
Fläche oberhalb des Waldes tragen, damit sie unter dem Grabstein liege? Sollte
ich mich neben ihr ausstrecken, um Frühlingsgras oder Weidengebüsch zu werden?
    Ich ging fort, ohne mich umzuwenden,
ich weiß nicht, ob sie nach mir rief, und selten blieb sie in meinem Gedächtnis
– wie ein Grabstein.
    „He!" rief ich manchmal durch
die Weite der Zeit, zu dem weißen Frühlingsgrab hin, doch aus der Ferne kam
kein Widerhall.
    Und so vergaß ich schließlich.
    Ich glaube, ich hätte mich auch
jetzt nicht erinnert, wäre nicht in dieser Nacht, gerade in dieser Nacht, ihr
Sohn gekommen. Der vielleicht auch meiner ist.
    Ich weiß, ich könnte, so wie jeder
Narr, sagen: Wäre nicht das geschehen, was geschehen ist, so hätte mein Leben
einen anderen Lauf genommen. Wäre ich nicht in den Krieg gezogen, wäre ich
nicht von ihr geflohen, hätte ich nicht Harun in die Stadt geholt, wäre Harun
nicht ... Lächerlich. Was wäre dann das Leben? Hätte ich sie nicht verlassen,
wäre es mir nicht leichter vorgekommen, davonzugehen, als aller Welt zu
trotzen, vielleicht gäbe es dann nicht diese Nacht, aber ich hätte die Frau
gewiß mit der Zeit gehaßt – in dem Glauben, sie stelle sich meinem Glück in den
Weg, hindere mich daran, im Leben Erfolg zu haben. Denn ich wüßte nicht das,
was ich jetzt weiß. Unselig und unstet ist der Mensch, und er trauert um alle
Wege, die er nicht gegangen ist. Wer aber weiß, was mich auf anderen Wegen
erwartet hätte.
    „Es war dein Glück, daß du vom Dorfe
fortgegangen bist", sagte mir der Jüngling schläfrig.
    „Geh, schlaf jetzt, du bist
müde."
    „Es war dein Glück."
    „Morgen werde ich dich früh wecken.
Ich gehe auf Reisen."
    „Weit fort?"
    „Hafiz Muhamed wird sich um dich
kümmern. Willst du in der Tekieh bleiben?"
    „Es ist mir gleich."
    Mir auch. Mag er selber wählen, mag
er's versuchen. Ich kann ihm nicht helfen. Keiner kann dem andern helfen.
    Er wollte mir die Hand küssen, sie
hatten es ihm sicher geraten, damit er mich freundlich stimme und mir eine
Dankbarkeit bekunde, die er gar nicht fühlte. Ich ließ es nicht zu.
    Er ging, müde, weit ist der Weg vom
Dorf zur Stadt (noch weiter ist der von der Stadt zum Dorf), vielleicht
wunderte er sich ein wenig, weil alles so gut ging, vielleicht spürte er
Wehmut, weil er bleiben würde. Wir waren aneinander vorbeigegangen, kalt und
fremd.
    Beinahe mit Widerwillen dachte ich,
daß es auch anders hätte vor sich gehen können, daß ich ihn hätte
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