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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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schaffen, die Einsamkeit tat mir wohlig weh, sie
schuf mir Leid, und doch hätte ich sie gegen nichts eingetauscht, die warme
Feuchte der vom Frühling geweckten Erde duftete, in den Pappelkronen sammelten
sich Turteltauben, im seichten Wasser badeten Ringeltauben, sie schlugen mit
den Flügeln, daß die Tropfen grün und rot nach allen Seiten flogen, von
irgendwo aus der Ferne kam träges Viehglockengeläut. Vertrautes Land,
vertraute Farben, vertraute Klänge; ich sah um mich: es war mein; ich roch: es
war mein; ich lauschte: es war mein.
    Mein war auch dies, das Leere, das
Verlorene.
    Wie hatte ich mich gesehnt
hierherzukommen, wie ein Wolf hatte ich die Nase in den Wind gehoben, mein
Wünschen hatte die Richtung gefunden, nun also war ich hier, das Wunder, auf
das ich gehofft hatte, blieb aus, aber es war gut, aber es war schön, aber es
war still. Still wie im Traum, still wie das Genesen.
    Ich strich mit der Hand über das
weiche Gras, noch ganz jung war es und zart wie Kinderhaut, und ich dachte
nicht mehr an die erwachte Erde.
    An die Heimat, ans Elternhaus hatte
ich gedacht, als ich zurückkehrte, eilend und mit letzter Kraft, und auch an
sie hatte ich gedacht, manchmal. Jetzt dachte ich nur an sie.
    Es wäre besser, du hättest auf mich
gewartet, flüsterte ich vor mich hin, es wäre leichter. Ich weiß nicht, warum,
aber es wäre leichter. Vielleicht bist du wichtiger als die Heimat, als das
Elternhaus, jetzt, da es dich nicht mehr gibt.
    Wie schön wäre es, wenn es dich
gäbe, es wäre leichter, es wäre besser. Ohne dich schmerzt mich das Vergangene
mehr, die fremde Ferne, die öden Landstraßen, die seltsamen Träume, die mich
auch im Wachen nicht verlassen und die ich ohne dich nicht vertreiben kann.
    Ich klagte nicht, nein, es war mir
gleich, aber ich rief ihren Schatten, ihr verschwundenes Antlitz, um Abschied
zu nehmen, zum letztenmal, um sie noch einmal zu verlassen.
    Und es gelang mir, sie
herbeizurufen, sie erstehen zu lassen aus grünem Gesträuch, aus dem Abglanz des
Wassers, aus Sonnenlicht.
    Sie stand, fern, ein Gebilde aus
schwankenden Schatten. Beim ersten Windhauch würde sie verschwinden.
    Ich wünschte das und erschauerte
davor.
    „Ich wußte, daß du kommst",
sagte ich, und ich sprach gleich weiter: „Zu spät, nichts ist mehr da außer in
meinen Gedanken. Und auch das soll nicht mehr sein. – Allah sei mit dir!"
sagte ich zum Abschied. Ich werde es nicht zulassen, daß du mich umhertreibst
wie ein Gespenst. Immer stehst du zwischen diesen Bergen – wie der Mond, wie
der Fluß, wie der Muezzin auf dem Minarett, wie ein Trugbild aus Licht, du
füllst diesen Raum mit deinem Bild wie ein Spiegel, du füllst ihn mit Duft wie
ein Bett. Ich gehe hinaus in die Welt, dort, unter anderem Himmel, gibt es dich
nicht, auch nicht dein Bild wird in mir sein.
    „Warum legst du den Kopf in die
Hände?" fragte sie mich. „Bist du traurig?"
    „Ich werde fortgehn", sagte
ich, und ich schloß die Augen, senkte die Lider wie ein Visier, wie ein Tor, um
ihr flüchtiges Bild zu verdunkeln. „Ich gehe fort, um dich nicht zu sehen, ich
gehe fort, um nicht an den Verrat zu denken."
    „Weißt du, wie mir zumute war? Weißt
du, wie mir jetzt zumute ist?"
    Ich gehe fort, um dich nicht zu
hassen, gehe fort, daß mir alles gleichgültig wird. Ich habe dein Bild auf
fernen Wegen verstreut, der Wind wird es verwehen, der Regen abwaschen, hoffe
ich. In mir wird es von der bitteren Kränkung getilgt werden.
    „Warum bist du im Herbst
fortgegangen? Man soll nie fortgehen, wenn man Grund hat zu bleiben."
    „Ich mußte fort."
    „Du hast mich verlassen. Was hast du
draußen in der Welt gesucht? Traurig bist du zurückgekehrt. Ist das alles, was
du gewonnen hast?"
    „Traurig bin ich wegen der Wunden,
der Erschöpfung, der toten Kameraden."
    „Traurig bist du auch
meinetwegen."
    „Traurig bin ich auch deinetwegen,
aber das werde ich dir nicht sagen. Tage und Wochen bin ich gewandert, dich zu
sehen. Abends legte ich mich unter einen Baum des Waldes, hungrig, mit wunden
Füßen, durchschauert von eiskaltem Regen, doch ich achtete nicht darauf, vergaß
alles, sprach in Gedanken nur mit dir. Auf Landstraßen ohne Ende schritt ich
dahin, entsetzt hätte mich der Gedanke, wie viele Wege und Straßen und wie
schreckliche Entfernungen es auf der Welt gibt, wenn ich dich nicht an der Hand
geführt, wenn ich nicht deine Seite an meiner, deine Hüfte an meiner gefühlt
hätte, sehnlich auf einen ebenen Weg wartend, damit
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