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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod
Autoren: Meša Selimović
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laut atmen, als
wäre ich schon auf der Flucht vor den Verfolgern, und das Herz darf nicht so
wild klopfen, es wird mich verraten, wie eine Glocke.
    Aber mit einem Male erschlaffte ich.
Verschwunden waren Mut und Hoffnung. Und die Kraft. Alles war umsonst.
    Vor dem Gerichtshaus stand der
Piri-Vojvoda, und auf der Straße schritten drei bewaffnete Sejmenen
auf und ab. Ich wußte es – meinetwegen.
    Ich machte mich auf den Weg zur
Tekieh.
    Zum Gerichtshaus wandte ich mich
nicht noch einmal um, vielleicht war ich zum letzten Male hier, aber
nichts band mich an dieses Gebäude. Ich wollte auch nicht denken und konnte
nicht denken, nichts hielten meine Gedanken. Alles in mir war leer, so
als wäre mein Inneres ausgeräumt.
    Wo die Gasse sich zur Brücke hin
öffnet, trat ein junger Mensch auf mich zu.
    „Entschuldige, ich wollte ins
Gerichtshaus, aber sie haben mich nicht zu dir gelassen. Ich bin aus
Devetki."
    Er lachte, während er das sagte, und
erklärte es sofort.
    „Du darfst mir nicht böse sein, weil
ich lache. So ist das immer mit mir, besonders wenn ich verwirrt
bin."
    „Bist du denn verwirrt?"
    „O ja. Eine ganze Stunde schon
flüstre ich immer vor mich hin, was ich dir sagen werde."
    „Hast du's gesagt?"
    „Alles hab ich vergessen."
    Und wieder lachte er. Und gar nicht
verwirrt sah er aus.
    Aus Devetki! Meine Mutter stammt aus
Devetki, die halbe Kindheit habe ich in dem Dorf verbracht. Dieselben
Berge stehen um uns, auf denselben Fluß schauen wir, dieselben
Pappeln am Ufer.
    Brachte er mir in seinen lachenden
Augen meine Heimat, damit ich sie noch einmal sehe, vor dem Ende?
    Was wollte er? Fort aus dem Dorfe,
so wie ich vor vielen Jahren?
    Suchte er im Leben breitere Wege als
die von Devetki? Oder scherzte das Schicksal, sollte ich mich durch
diesen Jungen noch einmal an alles erinnern, vor der großen Reise? Oder
war er ein Zeichen der Ermutigung, das Gott mir schickte?
    Warum tauchte gerade jetzt dieser
Bauernbursche auf, der mir näherstand, als er ahnen konnte? War er
gekommen, in dieser Welt an meine Stelle zu treten?
    Der Piri-Vojvoda und die Sejmenen
folgten uns. Sie verriegelten mir alle Wege, würden mir einen einzigen
Ausgang lassen.
    „Wo wirst du übernachten?"
    „Ich weiß nicht."
    „Komm mit in die Tekieh."
    „Sind das da deine Leute?"
    „Ja. Achte nicht weiter auf
sie."
    „Wovor schützen sie dich?"
    „Es ist so Sitte."
    „Bist du in der Stadt der
Wichtigste?"
    „Nein."
    Wir gingen hinein, er ließ sich in
meinem Zimmer auf dem Teppich nieder, das schwache Kerzenlicht
holperte über die Unebenheiten seines knochigen Gesichts, gewaltig war der
Schatten hinter ihm, auf dem Fußboden und an der Wand, ich sah zu, wie er
das einfache Tekieh-Essen mit den vorgeschobenen, gleichsam eisernen
Kiefern mahlend kaute, vielleicht nicht einmal wissend, daß er aß, denn er
dachte wohl daran, wie diese Begegnung ausgehen werde. Aber er zeigte
sich weder besorgt noch unsicher. Ich war all das gewesen, damals. Ich
erinnere mich der ersten Mahlzeit, kaum drei Bissen brachte ich hinunter,
sie würgten mich.
    Wir waren verschieden und doch ganz
gleich. Ich sah mich selbst, ein wenig anders, wie nachgeschaffen,
von neuem begann derselbe Weg.
    Vielleicht würde ich alles wieder
genauso tun, aber ich konnte nicht denken, meine Sinne waren verdüstert
von Wehmut.
    „Sicher willst du in der
Stadt bleiben?"
    „Woher weißt du das?"
    „Hast du keine Angst vor der
Stadt?"
    „Warum sollte ich Angst
haben?"
    „Es ist nicht leicht hier."
    „Ist es denn bei uns leicht, Ahmed
Effendi?"
    „Erwartest du viel?"
    „Die Hälfte von deinem Glück, das
wär mir genug. Ist das zuviel?"
    „Ich wünsche dir mehr."
    Er lachte heiter.
    „Möge Gott dich erhören. Begonnen
hat es gut. Nicht einmal im Traum wäre mir eingefallen, daß du mich so
aufnehmen würdest."
    „Du bist zu guter Stunde
gekommen."
    „Zu guter Stunde für mich."
    Vielleicht. Warum sollte der Weg für
alle derselbe sein.
    Ich betrachtete ihn mit Interesse,
vielleicht sogar mit zärtlicher Rührung, ich glaubte beinahe mich
selbst zu sehen, so wie ich damals war, unbegreiflich jung, ohne Erfahrung,
ohne Splitter im Herzen, ohne Furcht vor dem Leben. Es kostete mich Mühe,
ihn nicht an der Hand zu fassen, der knochigen, harten, verläßlichen,
und mit geschlossenen Augen die Vergangenheit zu beschwören. Nur
noch einmal, sei es auch nur ganz flüchtig.
    In meinem Blick sah er eine Wehmut,
die nicht ihn betraf. Er fragte, da meine unerwartete
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