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Schlehenherz

Schlehenherz

Titel: Schlehenherz
Autoren: Heike Eva Schmidt
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    Betreff: miss u

    liebe vio,
    heute war ich auf »unserem« hochsitz, wo wir immer über gott und die welt gequatscht haben. es war ganz still, denn du warst nicht da. ich hatte deine jacke an und wenn ich den kopf drehte, konnte ich im kragen noch den schwachen duft deines parfums riechen. irgendwas mit grapefruit und ingwer. in diesem moment war es so, als würdest du neben mir sitzen. ich habe die hand ausgestreckt, aber ins leere gegriffen – natürlich.

    obwohl ich es wusste, hat mich der schmerz in diesem moment wie ein faustschlag erwischt. weil es sich immer noch so anfühlt, als wärst du da. weil ich deine jacke trage, die nach dir riecht. weil ich genau weiß, wie du am telefon klingst. »süße, ich bin’s, viiiio!« – ich kann deine stimme so deutlich hören, als würdest du in dieser sekunde mit mir sprechen.

    hier auf dem hochsitz haben wir oft stundenlang gehockt und gequatscht. hier hast du mir von deinen bildern erzählt. hier hab ich dein t-shirt nassgeheult, weil till aus der elften mich links liegen ließ und auf dem schulhof mit der dummen zicke nessie rumknutschte. uns gingen die themen nie aus. eine von uns musste nur ein stichwort sagen – und dann prusteten wir beide los. insiderwitze, die sonst niemand kapierte.
    vio und lila, die unzertrennlichen. wir kannten uns in- und auswendig, wussten alles voneinander. dachte ich.
    als du auf einmal verschwunden warst, hab ich geahnt, dass es etwas gibt, das ich nicht von dir weiß, etwas, das du mir verschwiegen hast.
    und jetzt bist du fort.
    ich bin bis zur dämmerung auf dem hochsitz geblieben. die untergehende sonne hat die wolken graugoldorange gefärbt, und ich hab mich gefragt, ob es so im himmel aussieht.
    sieht es da so aus, vio? gibt es überhaupt einen himmel? tut sterben weh oder geht man tatsächlich in ein helles licht und ist dann für immer glücklich?
    über den tod haben wir nie geredet. warum auch? wir wollten doch leben und nicht sterben. ich glaube, wir haben tatsächlich geglaubt, so was wie der tod würde uns nie passieren. aber jetzt liegst du in einem grab auf dem friedhof und ich kann immer nur denken: wer hat dir das angetan?
    lila

1. Kapitel

    »Lila, nun warte doch mal!« Ich hörte Vios hastige Schritte hinter mir und musste lachen. Konnte sie sich also doch beeilen, wenn sie wollte! Hinter meinem Rücken keuchte es: »Ok, es tut mir leid. Ich habe nicht verdient, dass du auf mich wartest. Ich schwöre, ich werde mich bessern.«
    Jetzt war Vio an meiner Seite und ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie grinste wie ein Kobold. Sie glaubte genauso wenig an ihren Schwur wie ich. Vio war unverbesserlich. Oft stand ich vor ihrem Haus, um sie zur Schule abholen, und sie war gerade erst aus dem Bett gekrochen! Klar, wenn Vio dann endlich geduscht, angezogen und geschminkt war, kamen wir regelmäßig zur ersten Stunde zehn Minuten zu spät. Mindestens.
    Den Anpfiff von den Lehrern kriegten wir beide, aber nur ich ärgerte mich darüber. Vio grinste ihnen nur frech ins Gesicht, ging zu ihrem Platz und hatte die Standpauke vergessen, ehe ihr jeansbekleideter Hintern den Stuhl berührte. Also beschloss ich, den Spieß umzudrehen.
    Als ich Vio an diesem Morgen noch im Schlafanzug antraf, ging ich einfach los, ohne auf sie zu warten. Ich war noch nicht mal zehn Schritte weit, als Vio aus der Haustür geschossen kam, als hätte sie einen Turbo an ihren Flipflops. Die Kette um ihren Hals hüpfte wild auf und ab, als sie mich einzuholen versuchte. An der Kette hing Anubis, der ägyptische Totengott. Besser gesagt, eine Miniatur von ihm. An Anubis hatte Vio einen Narren gefressen. Keine Ahnung, warum, normalerweise hatten wir beide es nicht so mit Mystik und diesem Kram. Aber als Vio damals bei dem Straßenfest an einem der Schmuckstände den Anhänger mit dem Schakalkopf sah, zückte sie sofort ihre Geldbörse und opferte ihr ganzes Geld für das viel zu teure Schmuckstück. Seitdem tat sie ohne diese Kette keinen Schritt mehr.
    Jeder ihren Tick. Dafür ging ich nie ohne meinen Ring mit dem Mondstein aus dem Haus. Ich glaubte fest, dass er mir Glück brachte. Bei diesem Gedanken fasste ich unwillkürlich an meinen Finger und merkte prompt, dass ich den Ring heute zu Hause vergessen hatte. Mist, hoffentlich brachte mir das kein Pech. Ich hatte noch nicht mal zu Ende gedacht, als Vio neben mir ächzte: »Och nee, ausgerechnet der jetzt!«
    Ich blickte in die gleiche Richtung wie Vio
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