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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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müssen.
    Der letzte Reiter der Gruppe presste seinem Lamagua die Fersen in die Flanken und schloss mit wenigen Sprüngen auf. Ein General in sirrendem Kettenhemd. Wie dem Mann vor ihm fehlte ihm der kleine Finger an der rechten Hand.
    In dem Moment, als das Schicksal Tupacs Ende besiegelt hatte, waren sie von zwei Seiten auf den Festplatz gestürmt. Vom Fluss aus der Stamm der Krokodilreiter, alarmiert von einem drei Mann langen Alligator.
    Aus den Wipfeln der Urwaldriesen die Spinnenmenschen. In ihrer Mitte der General des flüsternden Volkes, der nun gemeinsam mit seinem besten Freund den Wald zu retten versuchte.
    Â»Es ist noch eine gute Stunde bis zum Kolibribaum!«, rief Animaya über die Schulter hinweg. »Vertreibe uns die Zeit, Vinoc! Erzähle, wie du dein Leben gerettet hast.«
    Vinoc lächelte und seine kräftigen weißen Zähne glänzten zwischen den schwarzen Bartstoppeln. »Als Natan dich aus dem Baum der Spinnenmenschen befreite, hatte ich innerlich schon mit dem Leben abgeschlossen.«
    Mora lachte. »Genau wie ich, als mich die Wächter der Maisminen in die Mangel nahmen. Aber die Götter hatten wohl noch etwas mit uns vor.«
    Â»Mora hat damals fünf unserer Krieger zusammengeschlagen und fliehen können. Weitere Heldentaten machten ihn ein paar Jahre später zum Häuptling der Spinnenmenschen.«
    Mora ritt neben seinem Freund und reichte ihm die Hand.
    Â»Ich war blind vor Hass auf den Menschen, den ich gerettet und der mich dann im Stich gelassen hatte. Als ich ihn nun nach so langer Zeit vor mir im Netz zappeln sah, dachte ich, der Tag der Rache sei gekommen. Den sollte mein Stamm nicht aussaugen, der gehörte mir ganz allein! Doch als ich ihn auswickelte, fehlte ein Stück. Das gleiche wie bei mir. Da erkannte ich, dass ich mich in die falsche Richtung bewegt hatte. Mein Leben hatte nur aus Hass bestanden. Vinocs fehlender Finger öffnete mir die Augen. Wer ein solches Versprechen hält, kann kein schlechter Mensch sein. Also hörte ich, was er mir zu sagen hatte. Auch mein Volk beobachtete die Vorgänge im Wald schon seit einiger Zeit voller Sorge.«
    Lautlos, als könnte hinter jedem Baum ein Feind lauern, kämpften sich die Lamaguas durch das Flussbett. Der Kolibri flatterte vor ihnen her.
    Langsam kehrte bei Animaya die Erinnerung zurück. Lange, lange war es her, seit sie mit Tinku Chaki, den sie stets für ihren Vater gehalten hatte, an diesen Ort geritten war. Der Vogel, ihr Geistesführer, leitete die Lamaguas durch ein Portal, das zwei Bäume bildeten, in die vor vielen Jahren der Blitz eingeschlagen haben musste. Dahinter befand sich ein wahrer Tempel mit Dutzenden von kahlen Bäumen in seiner Mitte. Flehend wie betende Greise reckten sie die Äste zur Sonne, doch ein Blätterdach von noch größeren Bäumen ließ nur wenig Licht zu ihnen durch.
    Animaya sog begierig die frische Luft ein. Hier war es deutlich kühler als im Rest des Waldes und der Duft von tausend Blüten betörte ihre Sinne. Die Lamaguas blieben stehen. Kein Zweifel, das war der richtige Ort. Hier war es möglich, direkt mit den Toten zu sprechen – wie Tinku Chaki es getan hatte.
    Ehrfurchtsvoll stiegen vier der Reiter ab. Animaya lief zu Pillpa und half ihr von Makuku herunter.
    Â»Riechst du das?«, fragte sie ihre Freundin.
    Pillpa strahlte. »Es sind so viele Düfte, meine Nase ist fast schon überfordert.«
    Animaya nahm Pillpa an die Hand und führte sie die paar Schritte in den Tempel hinein.
    Â»Der ganze Boden ist mit einem Blumenteppich bedeckt. Merkst du, wie es an den Füßen kitzelt?«
    Pillpa lief eine Träne über die Wange. »Erinnerst du dich an unser Gespräch im Wald? Am Morgen des Haremsfestes?«
    Â»Ja, natürlich.« Pillpa hatte sie damals gefragt, warum die Menschen Blumen so lieben, obwohl sie gar keinen Nutzen für sie haben.
    Â»Ich weiß jetzt die Antwort: weil uns dadurch die Augen geöffnet werden, wie schön wir selbst sein könnten.« Pillpa lächelte. »Wer die Schönheit in den Dingen nicht erkennen kann, der wird auch nicht lieben können. Sich nicht und andere erst recht nicht. Blumen sind für mich Boten aus einer anderen Welt, wie eine Brücke von unserer Wirklichkeit zu dem, was möglich wäre. Dafür ist es auch ausreichend, sie nur zu riechen.«
    Animaya zitterte, so berührend, so treffend fand sie
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