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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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unzähliger Angriffe. Zeugen ver gangener, unerbittlich geführter Schlachten. Aber keine Bilder oder Zeichen, die Hinweise auf die Erbauer der Stadt hätten geben können. Es waren augenscheinlich geniale Architekten gewesen, jedoch keiner Schrift mächtig.
    Mittlerweile hatte sich der Dschungel zurückgeholt, was ihm die Baumeister vor fünf Jahrhunderten abgetrotzt hatten. Doch noch immer umschlang die Mauer die dahinterliegenden Gebäude, als wären es die Arme eines Riesen, der sein Kind schützend an sich drückt.
    Kapnu Singa streckte den Rücken und sah über seine Schulter. Die Hufe des Lamaguas trommelten nun schon auf das moosbewachsene, lückenlos verlegte Pflaster der Prachtstraße, die auf das einzige Tor zuführte. Hinter ihnen war nichts, außer der Bresche, die sie selbst ins Gebüsch geschlagen hatten.
    Ein unbekanntes Gefühl bebte in seiner Brust: Angst. Nur ein paar Atemzüge noch, dann waren sie in Sicherheit! Er sah nach oben, zu Anaq, seinem Liebling. Der Kondor kreischte vor Hunger.
    Ein zarter Wind kam auf. Die Nebelschwaden stoben wie eine erschrockene Schafherde auseinander und gaben die Sicht auf Statuen hoch oben auf dem Mauersims frei. Die Furcht einflößenden Figuren trugen Waffen und hatten die markanten Gesichtszüge der Ureinwohner Perus. Exakt alle dreißig Schritte war eine von ihnen aufgestellt, die Augen wie in höchster Konzentration zu Schlitzen verengt. Die Spitzen ihrer Speere zeigten Richtung Feindesland.
    Als die beiden Reiter nur noch ein paar Dutzend Mannslängen entfernt waren, zuckte der Wachmann oberhalb des Tores mit den Nasenflügeln. Er war nicht aus Stein, wie es aus der Ferne schien, sondern aus Fleisch und Blut. Was auf Fremde wie eine Ruine wirken musste, war bewohnt, nie verlassen gewesen. Das gesamte Volk des Inka, des gottgleichen Herrschers, versteckte sich hier. Und das seit Jahrhunderten.
    Sie nannten sich selbst das flüsternde Volk, denn niemandem war es erlaubt, laut zu sprechen. Die Pflanzen auf den Dächern waren ihre grüne Tarnkappe. Ihr Gebieter und seine Vorgänger hatten an alles gedacht. Sie hatten sogar die Stunde festgelegt, in der die Untertanen aufzustehen hatten – erst wenn der Wald das Zeichen gab. Zu ihrer eigenen Sicherheit durfte niemand sein Haus vorher verlassen oder auch nur ein Geräusch verursachen. So war das Gesetz.
    Der Wachmann hob die Hand, um die Reiter zu stoppen. Er war unsicher. Auf Besuch in der Dämmerung war er nicht vorbereitet worden. Niemand wäre so dumm, die Stadt im Dunkeln zu verlassen – und vor allem würde keiner von ihnen zurückkehren. Es konnte sich also nur um eine Falle handeln, Feinde in Rüstungen der Generäle. Auch die anderen Männer, die die ganze Nacht über regungslos dagestanden hatten, sammelten sich nun über dem Tor, ihre Speere ratlos auf die Fremden gerichtet.
    Kapnu Singa hatte keine Zeit zu verlieren, nur noch wenige Augenblicke und die Sonne war da. Im vollen Galopp warf er seinen schwarzen Umhang über die wertvolle Fracht. Beinahe gleichzeitig holte er mit seiner Schleuder aus und traf den Torwächter, ohne zu zielen, knapp unterhalb des Helmrands an der Schläfe. Noch ehe der Unglückselige rückwärts in den Staub der Stadt gekippt war, stürzte Anaq vom Himmel. Aas! Als Warnung für alle anderen, die morgendlichen Rückkehrer auf der Stelle zu vergessen, schlug der Kondor dem toten Wächter seinen Schnabel in den Hals.
    Â»Kapnu Singa! « , flüsterte einer. So gut konnte nur der höchste Magier mit seiner Waffe umgehen. Und nur ihm gehorchte Anaq.
    Die Männer überschlugen sich nun, den Weg in die Stadt freizugeben. Während die Reiter in unverminderter Geschwindigkeit auf das verriegelte Tor zuschossen, rutschten die Wach männer die lange Stiege herunter. Unten angekommen, warfen sie ein großes Rad in Schwung. Armdicke Seile spannten sich. Kaum waren die Flügel des Portals so weit auseinander, dass sie Platz für ein Lamagua boten, drückten sich auch schon die beiden Göttertiere nacheinander hindurch. Jeder wandte den Kopf folgsam zur Seite, kein Wort der Erklärung fiel.
    Weiter angespornt jagten die Lamaguas über den toten Wachmann hinweg durch die engen Gassen. Der Geruch ihres Stalls hing schon in der Luft und setzte letzte Kräfte frei. Sie schnaubten fast lautlos. Nur noch ein paar Schritte.
    Ein- und zweigeschossige
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