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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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Zwei Generäle in voller Rüstung schritten die Reihen ab und zählten die Anwesenden. Dabei glitten Knotenschnüre, die Quipus, durch ihre Finger. Jeder Knoten darauf symbolisierte einen Untertan, es konnte also keiner unbemerkt verloren gehen.
    Animaya stand regungslos an ihrem Platz. Ein ungewöhnlich scharfer Wind wehte an diesem Morgen durch die steinernen Gassen Paititis. Ein heißer Wind, der das Atmen er schwerte und in der Lunge brannte wie Feuer. In der Däm merung war eine Menge Staub aufgewirbelt worden und sicher hatten viele das Heulen der gefangenen Albina gehört. Doch niemand verlor ein Wort darüber. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Und eine Albina in den Mauern Paititis war so undenkbar wie Sonnenlicht in der Nacht.
    Wegen dieser Kreaturen erduldeten sie das alles. Das Flüstern am Tag, das Schweigen in der Nacht. Die Albinas hatten es einzig und allein auf die Menschen abgesehen. Sie verschonten das Spinnenvolk und die Krokodilreiter, ein Beweis für den Inka, dass diese nicht menschlich sein konnten – höchstens minderwertige Rassen.
    Fast fünfhundert Jahre schwelte der Konflikt mit den Albinas nun schon, seit fünf Jahrhunderten lagen die Bleichen auf der Lauer. In all der Zeit war es dem flüsternden Volk gelungen, den Standort Paititis vor ihnen geheim zu halten.
    Animaya war so stolz, diesem Volk anzugehören. Immer hielt sie sich besonders aufrecht, immer schmetterte sie die Gesetze voller Inbrunst im Flüsterton mit. Heute aber, als die Generäle ihr näher und näher kamen, trommelte ihr Herz vor Angst. Im Haus der Gesetze war ihnen von klein auf eingebläut worden, dass ihr Körper sie verraten würde, wenn sie die Regeln des Inka brächen. Musste man ihr die Sünde nicht an der Nasenspitze ansehen? An der Farbe ihrer Wangen? Waren ihre Augen blutrot unterlaufen, weil sie etwas gesehen hatte, was sie nicht sehen durfte?
    An diesem Morgen waren die Generäle offenbar weniger sensibel für solche verräterischen Signale als sonst, denn sie gingen ohne Kommentar an Animaya vorbei. Am Ende der letzten Reihe angekommen, klopften sie zweimal mit ihren Speeren auf das Pflaster. Ein gutes Zeichen: In dieser Nacht hatte es keine Verluste gegeben. Die gerechte Bestrafung der Wache wurde selbstverständlich nicht erwähnt.
    Beinahe zeitgleich mit dem zweiten Klopfen erschien Kapnu Singa auf den moosbewachsenen Stufen des Tempels. Mit aus ladenden Schritten trat er vor das Volk und riss seinen Helm aus Gürteltierpanzern herunter. Die kurzen pechschwarzen Haare kleb ten ihm an Stirn und Hals, die wulstige Narbe auf seiner Wange leuchtete lila, die Flügel seiner verbeulten Nase bebten vor Anspannung. Sein Gesicht wirkte wie die Rinde eines knorrigen Baumes.
    Bisher hatte sein Anblick Animaya stets beruhigt. Mochten die Feinde auch noch so mächtig sein, hier stand jemand, der das flüsternde Volk bis auf den letzten Blutstropfen verteidigen würde. Vor Spinnenmenschen, Krokodilreitern und sogar vor Albinas.
    Â»Volk von Paititi«, flüsterte Kapnu Singa einen Tick lauter als sonst. Seine Stimme zitterte leicht.
    Der höchste General wirkte erschöpft, abgekämpft. Wie war es ihm gelungen, die Albina zu fangen?
    Animaya biss sich auf die Unterlippe. Es gehörte sich nicht, darüber nachzudenken.
    Wenn jeder seine Aufgabe erledigt, ist ein Volk unbesiegbar.
    Kapnu Singas stechender Blick glitt über die Gesichter seiner Untertanen. Animaya versuchte, ihm standzuhalten. In den Augen des Magiers war nichts Weißes. Wie blanke schwarze Kiesel lagen sie ihm in den Höhlen, kalt und unfähig, Emotionen auszudrücken. Wenn Kapnu Singa überhaupt ein Herz besitzen sollte, hatte er es in der mächtigen Brust wie einen Feind eingemauert.
    So musste der oberste Kriegsherr auch sein: unbarmherzig und hart, um den Bestand des Volkes zu sichern. Die Knochen an seinem Brustpanzer zeugten davon, dass er es ernst meinte, denn es waren die von seinem Kondor blank genagten Knochen der Gegner. Ja, Animaya musste Kapnu Singa dankbar sein.
    Anaq kam schreiend neben seinen Herrn gewankt. Sein weißer Schnabel und der fleischige nackte Kopf waren blutverschmiert. Er war satt.
    Kapnu Singa blähte die Nasenlöcher auf. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Seine Sicherheit war zurückgekehrt.
    Â»Volk von Paititi«, wiederholte er, diesmal noch salbungsvoller. »Morgen ist ein großer
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