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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri
Autoren: Thilo P. Lassak
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niedere Rasse, die sich in die Wipfel der Bäume zurückgezogen hatte. Dort oben fingen sie Affen und allerhand Vögel, die sie in harzige Seile einspannen. Sie leiteten den Tieren Verdauungssäfte ein und saugten sie dann durch Rohre komplett leer. Als besondere Delikatesse schätzten sie wohlgenährte Menschen aus der Stadt.
    Und dann gab es noch die schrecklichen Albinas …
    Â»So lasst uns mit dem zweiten heiligen Gesetz beginnen!«
    Animaya zuckte zusammen. Sie war in Gedanken versunken gewesen. Hatte sie etwas Wichtiges verpasst? Unsicher schielte sie zu Vinoc, aber der verwirrte Alte kaute nur mit den Kiefern, als hätte er eine Frucht im Mund.
    Wer laut redet oder lacht, dem wird die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Denn er schadet seinem Volk, weil er es an die Feinde verrät.
    Drei weitere Gesetze flüsterten sie. Der oberste General nickte zufrieden.
    Â»Unsere Rasse ist jeder anderen überlegen«, feuerte Kapnu Singa sie an. »Inti hat euch geformt, damit ihr die anderen Völker beherrscht! Geht nun an eure Arbeit und verrichtet sie in der Gewissheit, dass jeder Handgriff uns noch mächtiger machen wird. Tupac ist stolz auf euch! So stolz, dass er euch heute ein besonderes Geschenk macht: Am Hochstand der Sonne legt die Arbeit nieder und bereitet das Fest vor!«
    Jubel brach aus. Kapnu Singa genoss ihn mit einem selbstgefälligen Ausdruck im Gesicht. »Die Jungfrauen finden sich sofort mit den Baderinnen am Knochenfluss ein! Mit reinem Körper und unschuldigem Herzen werdet ihr dem Inka morgen entgegentreten.«
    Nach diesem Befehl drehte sich Kapnu Singa auf dem Absatz seiner Sandalen um und verschwand im Palast. Anaq hüpfte ihm hinterher. Die eben noch so ernsten Menschen strahlten vor Glück. Ein halber Tag ohne Arbeit! Im Nu löste sich die strenge Formation der Reihen auf.
    Pillpa sprang auf Animaya zu und schlang ihr überschwäng lich die Arme um den Hals.
    Â»Ani! Was machst du denn für ein Gesicht? Morgen ist das Fest. Und in diesem Jahr sind wir endlich die Hauptpersonen!«
    So war Pillpa eben: warmherzig, liebevoll und geradezu euphorisch, was ihre Chance beim Haremsfest anging.
    Während die Männer und Frauen nun bestens gelaunt ihre Arbeitsplätze aufsuchten, strömten die Jungfrauen in kleinen Grup pen der Oberstadt entgegen. Seit Monaten hatten sie kein anderes Thema mehr gehabt. Bei jeder gemeinsamen Arbeit hatten sie geplant, welches Kleid sie tragen, welche Frisur sie sich binden würden. Sie hatten von dem Moment geträumt, in dem der oberste General auf sie zutreten und »Du!« sagen würde.
    Â»Es geht los«, flüsterte Animaya. Auch ihr war ganz kribbelig zumute, wenn sie an morgen dachte.
    Pillpa nickte. Ihre Augen sprühten vor Lebenslust und sie seufzte: »Endlich!«
    Ihr Gesicht hatte nichts Grobes. Pillpa war schön wie eine eben erst aufgesprungene Orchideenblüte. Hohe Wangenknochen, gerade, volle Lippen und Augen, die wie glitzernde Schmetterlinge in ihrem Gesicht tanzten. Ja, der größte Zauber ging von ihren Augen aus. Sie war in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Kapnu Singa.
    Â»Endlich!«, wiederholte Pillpa und griff nach Animayas Hand.
    Animaya küsste sie auf die Wange. Sie waren mit den Geheimnissen und Sehnsüchten der anderen so vertraut wie Zwillinge. Eng umschlungen bewegten sie sich auf das Stadttor zu. Es tat Animaya so gut, Pillpas Nähe zu spüren. Es waren die einzigen Umarmungen, die ihr nach Tinku Chakis Tod noch geblieben waren.
    Â»Meine Eltern werden sich eine andere Hüterin für ihre Kinder suchen müssen. Jemand anders, der den Buckel für sie krümmt.«
    Es stimmte. Pillpas Arbeit bestand einzig und allein darin, ihre sieben jüngeren Geschwister zu versorgen. Kochen, anziehen und zur Ordnung rufen waren die Beschäftigungen, die ihre Tage ausfüllten. Das ließ viel Zeit zum Träumen. Seit Animaya denken konnte, drehte sich Pillpas Fantasie nur um das Leben im Palast. Sie wollte dem Inka nahe sein, von goldenen Schalen essen und aus goldenen Bechern trinken. Dem einfachen Leben entfliehen. In den Harem zu kommen, war die einzige Chance, die sie hatten. Pillpa war fest entschlossen, sie nicht verstreichen zu lassen.
    Â»Ab morgen hat das Hungern ein Ende«, flüsterte sie Animaya ins Ohr. »Ich bin ganz sicher, dass die Generäle mich auswählen werden! Meine Augen sind nämlich
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