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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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einem mächtigen Baum herangewachsen war. Seine Wurzeln vermochte auch der stärkste Wind nicht mehr auszureißen.
    Der Inka ist der Sohn der Sonne, die alles erst möglich macht. Was sein Mund flüstert, ist Gesetz. Seine Kraft hält das Volk am Leben. Ihm will ich immer dienen, mit meinen Gedanken, Worten und Taten. Die größte Ehre aber ist es für eine Jungfrau, ihm auch mit dem Leib gehorsam zu sein.
    Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem sie sich nicht gesehen und wenigstens ein paar leise Worte gewechselt hatten. Und morgen? Wog Freundschaft nicht doch mehr als die Ehre, die Nebenfrau des Sonnensohns zu werden oder Priesterin? Nur kurz zuckte dieser Gedanke in Animayas Kopf auf. Dann erkannte sie, wie ungeheuerlich es war, ihre eigenen Wünsche vor das Wohl des Volkes zu stellen. Außerdem lag es ohnehin nicht in ihrer Hand.
    Â»Wir werden beide auserwählt«, flüsterte Pillpa, doch ihre Stimme zitterte leicht. Um wen sie bangte, um sich, Animaya oder um sie beide, ließ sich nicht deuten. »Dann werden wir immer gutes Essen bekommen, nicht nur Mais, Mais, Mais. Es ist warm im Palast, auch in der Nacht, und wenn Tupac bei seiner Coya schläft, beginnt für uns der Spaß …«
    Animaya nickte nur. »Sie werden dich nehmen, ganz bestimmt. Und ich werde mir Mühe geben, es auch zu schaffen. Wenn nicht, werde ich immer an dich denken, wenn ich am Palast vorbeigehe.« Sie pfiff dreimal kurz, einmal lang. »Das war das geheime Zeichen von mir und meinem Vater. Wenn du das hörst, bin ich dir nah.«
    Pillpa machte die Pfiffe nach. Sie gelangen ihr perfekt. »So will ich es auch tun. Nur für den Fall, der nie eintreten …«
    Â»Auseinander!«, zischte der Aufseher und stach Pillpa mit dem stumpfen Ende seines Speers in die Rippen »Ihr flüstert schon viel zu lange miteinander! Dem Volk schaden Geheimnisse eines Einzelnen, alle dürfen alles wissen.«
    Â»Wir haben keine Geheimnisse«, erwiderte Pillpa furchtlos. »Wir sind nur so aufgeregt, weil wir schon bald den Palast des gottgleichen Inka von innen sehen werden! Dann berichte ich ihm, dass der hässliche blaue Fleck zwischen meinen Rippen von dir stammt.«
    Animaya bewunderte ihren Mut.
    Der General knurrte empört. »Geht jetzt zu den Baderinnen!«, befahl er. »Wir müssen vor der großen Hitze wieder in der Stadt sein.«
    Seite an Seite knieten sich Animaya und Pillpa an einer flachen Stelle in die Lagune. Sanft schwappte das aufgewühlte Wasser um ihre Hüften.
    Zwei Baderinnen traten hinter sie, zogen ihnen die Kleider über die Köpfe und begannen damit, die Rücken der beiden Mädchen mit rauen Blättern abzureiben.
    Animaya schloss die Lider und genoss den Moment mit allen Sinnen. Da spürte sie wieder den Blick. Augen erforschten ihren Körper. Sie riss den Kopf herum, suchte den General, aber der wies gerade zwei Mädchen am Wasserspeier zurecht, zwei bekleidete Mädchen. Auch die übrigen Wachen nahmen ihre Aufgabe ernst und registrierten jeden Windhauch, jedes wippende Blatt der Bäume. Und doch war sich Animaya sicher: Sie hatte sich nicht getäuscht.
    Mit einem Mal fühlte sie sich unbehaglich. Lauerte etwas im Wald? Es war ihr, als hätten die Bäume selbst sie angestarrt. Sie suchte die Urwaldriesen nach Spinnenmenschen ab, fand aber keinen Hinweis. Trotzdem nahm sie sich vor, wachsam zu bleiben.
    Als die Baderin ihr die Haare zurückstrich, um sie zu kämmen, zog sich Animaya schnell wieder ihr Kleid über. Während sie gezwungen war stillzuhalten, ließ sie ihren Blick über die Lagune streifen. Dabei fiel ihr eine Frau der untersten Kaste auf, die sich etwas abseits der anderen Dienerinnen aufhielt.
    Animaya betrachte sie mit wachsender Neugier. Mit stolzer Haltung nahm sie selbst niederste Aufträge entgegen und führte sie blitzschnell aus. Bald war ihr lumpiges Kleid mit Schlamm verschmiert, wofür sie sich offenbar nicht schämte. Zwischen all den Baderinnen hatte sie die Ausstrahlung einer Königin. Eine Weile schien sie einen Bogen um Animaya zu machen, endlich aber kam sie auch auf sie und Pillpa zu.
    Â»Bring uns ein Stück Harz!«, herrschte Pillpas Baderin sie an.
    Die Frau nickte, ohne richtig aufzuschauen. Sie konnte nicht allzu alt sein, denn sie hatte noch keine Fältchen um Mund und Augen. Ihr Verhalten aber glich dem eines Tieres, dessen Willen selbst die

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