Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotes Meer

Rotes Meer

Titel: Rotes Meer
Autoren: Åke Edwardson
Vom Netzwerk:
1
    I ch erinnere mich an Sand, soweit ich zurückdenken kann. Sand. Etwas anderes wäre auch seltsam gewesen. Sand rann durch meine Finger, Sand bewegte sich unter meinen Schritten.
    Daran erinnere ich mich so deutlich, als hätte ich auch jetzt Sand unter den Füßen. Und ich erinnere mich an die Kälte der Nächte. In der Wüste gab es fast keine Wege, keine Wege hinein und keine Wege heraus. Meine Mutter hat einmal gesagt, die Wüste sei wie ein Schiff ohne Segel. Ich habe sie gefragt, was sie damit meine, weil sie doch noch nie auf dem Meer gewesen war und auch nicht auf einem Schiff, aber sie antwortete nicht. Ich hatte auch noch nie ein Segel gesehen, damals noch nicht.

    Die Zeltplane begann im aufkommenden Wind zu schlagen. Es war die Stunde, bevor die Kälte kam. Nachts wünschte man sich, nicht in seinem eigenen Körper zu stecken. Verstehen Sie, wie ich das meine? Man war nur Knochen, kein Fleisch und kein Blut. Man wollte weg von sich selbst und allem, was einen umgab, man wusste ja, was es bedeutete. Bald würde es kommen, in der Minute, in der man seinen Körper verließ, in der Sekunde, in der es geschah. Verstehen Sie?

    Tagsüber versuchten wir zu laufen. Viele Wochen können es nicht gewesen sein, aber schon einen Tag nach unserer Flucht oder höchstens zwei Tage später konnte ich mich nicht mehr erinnern, wann wir das Dorf verlassen hatten. Vielleicht unter einem anderen Mond. Vielleicht unter einem anderen Gott. Doch es gab nur einen Gott. Im Dorf war Gott überall gewesen, und er war für alle da. Gott ist groß, Gott ist groß. All das.

    Als sie meinen Vater umbrachten, hat er Gott angerufen. Mein Bruder hat fast gleichzeitig gerufen, es war wie ein Ruf nach unserem Vater, und dann ist auch er gestorben, einen Tod nach dem Tod unseres Vaters. Können Sie das verstehen? Ich glaube, Sie können es nicht.
    Während wir unter dieser verdammten Sonne wanderten, waren die Erinnerungen gleißend wie das Licht der Wüste. Sie glühten in meinen Augen. Die Augen meiner Mutter konnte ich nicht sehen. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit wir das Dorf verlassen hatten.
    Ich kann mich nicht erinnern, wie wir entkommen sind.
    Vielleicht ist es ihnen nicht gelungen, alle zu töten, weil sie so viele gleichzeitig umbringen wollten. Das Töten ging nach Sonnenuntergang weiter, und im schwindenden Licht konnten wir fliehen. Meine Mutter hat mich gepackt wie ein Bündel Feuerholz, ein ziemlich großes Bündel, das aber nicht viel wog. Damals habe ich ihre Augen zum letzten Mal gesehen, im Licht der feuerroten Sonne. Und dann sind wir hinaus in die Nacht gestürmt.

    Ich erinnere mich an Blut. Es war schwarz im feuerroten Sonnenlicht, wie Öl. In der Erde gibt es viel Öl, das wissen Sie sicherlich, das wissen alle, ich habe beinah jeden Tag Öl gesehen, damals gab es fast genauso viel Öl wie Blut im Land. Jetzt ist das alte Blut im Sand versickert, das Öl aber wartet tief unten, und ich verstehe, dass Öl mehr wert ist als Blut, es ist dicker als Blut. Und Wasser, das dünner ist als Blut, ist auch mehr wert.
    Ich lief wieder. Ich hatte wieder Blut gesehen. Es war genauso schwarz. Ich hörte einen Schrei. Das Licht war wie Feuer, und es machte die Augen blind.

2
    D ort draußen. Es gibt nichts dort draußen. Dort oben: die Dämmerung, die kommen will. Aber es ist schon hell. Der Nacht bleibt in dieser Nacht kaum Zeit. Nicht weit entfernt verläuft die Autobahn zwischen Süden und Norden. Scheinwerferlicht auf dem Asphalt. Es kommt und geht, ein sinnloses Licht. Von Westen frischt der Wind plötzlich auf, ein Zug heult mit dem Wind. Es klingt jedenfalls wie ein Zug. Ein Taxi vor einem geöffneten Laden. Ein frei stehendes Gebäude, ungeschützt. Ein Laden ohne Kunden, rund um die Uhr geöffnet. Jetzt ist der Fahrer ausgestiegen. Im Laden ist es still. Still. Der Mann will Zigaretten kaufen. Der Laden hat Wände aus Glas. Nichts rührt sich. Stille. Alles ist still. Der Fahrer überquert den Parkplatz. Klacken von Absätzen in der Nacht. Von irgendwo ertönt ein Echo, er kann es hören. Etwas kehrt mit dem Echo zurück. Schreie. Ein Schrei, mehrere Schreie. Nein, das wird erst hinterher rekonstruiert. Schüsse. Ein Echo von Schüssen. Jetzt schreit er. Jetzt hat er es gesehen. Er verharrt in der Tür. Sie stand die ganze Zeit offen. Als er auf sie zuging, hat er die erleuchteten Glaswände gesehen. Aber jetzt sieht er das andere. Er steht in der Tür. Jetzt schreit er, doch niemand hört ihn.
    In einem Meer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher