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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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Garden Terrace Nummer 4, Dunedin
    Der sonntags verkehrende Bummelzug, ein Güterzug mit einem Waggon für Reisende an seinem Ende, brauchte sieben Stunden für die einhundertfünfundzwanzig Kilometer von Oamaru nach Dunedin, blieb an jedem Bahnhof stehen, wartete mindestens eine halbe Stunde bei den Gummibäumen in Waianakarua, bis der Mittagsexpress auf seinem Weg nach Norden vorbeigerast war, kroch an den von wilden Wicken umsäumten Bedarfshaltestellen vorüber. In den vielen Sümpfen entlang der Strecke wuchsen dunkelblaue Sumpfschwertlilien mit blass weißblauem, gelb gesprenkeltem Inneren. Wir blieben in Hampden stehen, wohin wir jedes Jahr zum Eisenbahn-Picknick gefahren waren; kurz vor der Viehsperre an der Lagune mit ihrer schattenhaften Masse schwarzer Schwäne waren wir aus dem Zug gestiegen und querfeldein mit Taschen und Decken hinunter zum Picknickplatz am Strand mit seinem «Strandklo» gewandert, einem Plumpsklo, dessen fleckiger Holzsitz in der Mitte geborsten war und dessen Betonboden nach Salz roch und von schmutzigen Pfützen und hier und da von einen Spritzer Möwenkot bedeckt war, so als ob auch die Möwen die Umkleidehütte als Klo benützten. Ich blickte hinaus auf Hampden und die schwarzen Schwäne und die Lagune, voller Erinnerungen, erschaffen aus der Vergangenheit, so wie sich eine Honig sammelnde Biene ihre eigenen süßen Bauten erschafft, und dachte an das Meer und an den Strand mit seinen Muscheln und an das Klo mitseinem nassen Boden; und an die Gratis-Himbeerlimonade in der Bahn.
    Dann kreiste der Zug auf seine merkwürdige Weise die Stadt Palmerston ein, wobei das steinerne Denkmal auf dem Hügel auftauchte, verschwand und von Neuem auftauchte und die wenigen Leute im Waggon plötzlich aufstanden und mit interessiertem Blick die Fenster öffneten, denn in Palmerston gab es «Erfrischungen», doch der Mittagsexpress hatte hier gehalten und war wieder weitergefahren, nachdem seine Fahrgäste sich wie die Heuschrecken durch das Angebot an Schinkensandwiches und süßen Brötchen und heißen Pasteten hindurchgefressen und nur die «Stängel» für die des Personenzuges übriggelassen hatten, welche nun, wie alle Reisenden in Palmerston, Hunger und Durst hatten.
    Die Hügel um Palmerston waren von der Sonne und vom Feuer verbrannt, mit einzelnen abgestorbenen Bäumen in einer Schlucht oder auf einem Abhang und mitunter einer Ansammlung von Bäumen, manche seit langem verdorrt, andere ganz kahl mit nur einer dünnen Schicht glänzender Blätter. Mehr Bäume tauchten auf, während sich der Zug Seacliff näherte, und wieder kam Bewegung in den Waggon, sobald die Fahrgäste
Seacliff
, den Bahnhof, und
Seacliff,
das Krankenhaus, bemerkten, die Irrenanstalt, die kurz zu sehen war, wie eine Burg aus dunklem Stein zwischen den Hügeln.
    Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Ja, die Verrückten waren da; alle blickten hinaus zu den Verrückten, die in Oamaru bekannt waren als die, die «die Strecke runter», und in Dunedin als die, die «die Strecke rauf» geschickt worden waren. Oft war es schwer zu sagen, wer die Verrückten waren. Ein paar Leute stiegen hier aus – das waren wohl die Verwandten, die einen Besuch machten. In unserer Familie gab es keineVerrückten, obwohl uns Leute bekannt waren, die «die Strecke runter» geschickt worden waren, aber wir wussten nicht, wie sie aussahen, nur dass sie einen komischen Blick hatten und sich womöglich mit einem Brotmesser oder einer Axt auf einen stürzten.
    Mich ängstigte die Aussicht auf das Leben in einer großen Stadt wie Dunedin zu sehr, als dass ich dem Bahnhof von Seacliff viel Beachtung geschenkt hätte. Nun wand sich der Zug um die steilen Klippen herum, und man sah hinunter auf die Feriensiedlungen in Waitati, Karitane, wo die «Gruppe» aus der Schule ihre «Häuschen» am Meer hatte und wo die Mummys und Daddys und großen und kleinen Brüder und Schwestern der feinen Welt mit ihrem Strand und ihren Booten und der Sonne und den Ferienvergnügungen ein Leben voll Spaß hatten.
    Der Zug quietschte, ächzte, kroch dahin, schaukelte hin und her, und das Meer lag weit unten, ruhig und grau, leicht gekräuselt und glänzend wie ein Robbenfell. Dann der Tunnel, Mihiwaka, und die Fahrgäste husteten, schlossen und öffneten und schlossen die Fenster, der Waggon war von Rauch erfüllt; nach dem Tunnel dann das unvermeidliche Gefühl der Ankunft: Port Chalmers, Ravensbourne, Sawyers Bay; der Hafen und der Bahnhof von Dunedin, ein riesiger,
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