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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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große Literatur eher
erduldet
als
genossen
worden war und dann prosaischen Angelegenheiten Platz gemachthatte. War das möglich? Ich fühlte mich verraten. Aber ich wusste, dass meine Lehrer an der Universität ihre Studien fortsetzen würden bis zu ihrem Tod. Professor Ramsay und Gregor Cameron waren undenkbar ohne Shakespeare und Chaucer.
    Hätten auch sie sich von ihrer Literatur trennen lassen, wenn sie eine alte Mutter zu versorgen gehabt hätten, wenn sie Frauen gewesen wären? Mich betrübte das Wissen, dass Miss Macaulay durch dieselben häuslichen Pflichten von ihrem Platz abgezogen worden war, die meiner Mutter die Aussicht auf den ihren verwehrt hatten.
    «Besuch mich wieder einmal», sagte Miss Macaulay.
    Ich besuchte sie nicht wieder.
    Ich fuhr nun seltener nach Hause. Üblicherweise kaufte ich eine ermäßigte Karte, fuhr mit dem Zug am Freitagabend, der zwischen ein und zwei Uhr nachts in Oamaru ankam, und mit dem sonntags verkehrenden Bummelzug nach Dunedin zurück. Auf der Fahrt nach Hause stellte ich mir immer vor, dass in der Eden Street 56 alles friedlich sein würde, anders, doch sobald ich eintraf, wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Isabel und June führten ihr eigenes Leben, die Feindseligkeit zwischen meinem Vater und meinem Bruder hatte sich vertieft, während meine Mutter selbstlos ihre Rolle als treusorgende Ernährerin, Friedensstifterin und Dichterin weiterspielte. Zu ihren Träumen von «Publikation» und Christi Wiederkunft hatte sich ein neuer Traum gesellt, ein Traum, der sie mitten unter die Figuren aus den Märchen platzierte: Jede ihrer mittlerweile erwachsenen Töchter sollte an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag einen weißen Fuchspelz bekommen. Ihr Traum von Bruddies Gesundheit oder auch Ruhm trotz seiner Krankheit war unverändert.
    Meine Unzufriedenheit mit meinem Zuhause und meinerFamilie war groß. Die Unwissenheit meiner Eltern machte mich wütend. Sie wussten nichts über Sigmund Freud, über den
Goldenen Zweig
, über T. S. Eliot. (Praktischerweise übersah ich dabei, dass mein Wissen über Freud, den
Goldenen Zweig
und T. S. Eliot am Anfang des Jahres ebefalls noch recht begrenzt gewesen war.) Überwältigt von der Flut neuen Wissens, platzte ich fast vor Kenntnissen über den
Geist
, die
Seele
, das
Kind
, sowohl das
Normale Kind
als auch den
Jugendlichen Straftäter
, obwohl ich gerade erst gelernt hatte, dass ein solches Wesen wie
Das Kind
überhaupt existiert. Das alles schilderte und erklärte ich meinen verblüfften Eltern ausführlich, bewertete und etikettierte es. Ebenso begeistert war ich von meinem neuen Wissen über Agrikultur und Geomorphologie. Ich redete über Kompost und über Gesteinsformationen. Ich erklärte Theorien, als wären es meine eigenen. Ich hatte die Ansichten über die Klassifizierung von Menschen zum Teil deshalb übernommen, weil ich geblendet war von der neuen Sprache und ihrem überzeugenden Vokabular. Ich konnte jetzt zu den Mitgliedern meiner Familie sagen: «Das ist eine Rationalisierung, das ist eine Sublimierung, in Wirklichkeit bist du sexuell frustriert, dein Über-Ich sagt dir das, aber dein Es ist anderer Meinung.»
    Mutter errötete, als ich das Wort «sexuell» aussprach. Dad runzelte die Stirn und sagte nur: «Das ist es also, was du an der Universität und an der Pädagogischen Hochschule lernst.»
    Ich erläuterte meinen Schwestern die Bedeutung ihrer Träume und dass «alles phallisch» sei. Ich redete auch mit übertriebener Klugheit über T. S. Eliot und den
Goldenen Zweig
und das «Wüste Land». «Unterrichten macht wirklich Spaß», sagte ich und erklärte, dass wir einen Monat Unterricht an der Hochschule hatten und dann einen Monat in Schulen waren,dass es Teststunden gab, Lehrproben, wo wir die Klasse einen ganzen Tag allein unterrichteten, und am Ende des Monats eine Beurteilung.
    «Tante Isy sagt, du bist ein reizendes Mädchen», sagte Mutter stolz. «Sie sagt, du machst überhaupt keine Umstände, sie merkt kaum, dass du im Haus bist.»
    «Ach ja», sagte ich, erfreut darüber, dass sie und Dad erfreut waren.
    «Und es ist eine Hilfe, dich im Haus zu haben, wo Onkel George doch so krank ist.»
    Onkel George. Das war wirklich ein Rätsel. Manchmal stand er auf und ging spazieren, ich wusste nicht, wohin, aber er hatte einen grauen Mantel an und ging hinaus in die graue Nacht, und wenn er zurückkam, war auch sein Gesicht grau, und Tante Isy half ihm aus dem Mantel, nahm ihm den Schal ab und begleitete ihn
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