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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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weibliche Geschlecht, blickte sie mit wetterkundigem Auge an und warnte: «Sie schwemmt ziemlich viel Dreck mit …»
    Ich stand an Deck, im Gewühl der Passagiere, und alle warfen Papierschlangen, die von den Zuschauern auf dem Kai gefangen wurden, denn damals war eine Reise zu Schiff ein bedeutsames Ereignis. Eine Blaskapelle spielte alte Melodien, Maorilieder und ein paar Militärmärsche. Ich blieb an Deck, um noch einen Blick auf Tante Polly zu erhaschen, die in ihrem blauen Mantel zerbrechlich und adrett aussah, auf Onkel Vere, der hochgewachsen neben ihr stand, und auf Dad, zusammengekauert gegen den Wind, halb geschützt vom Werftschuppen, und dann ging ich mit einem letzten Winken, die Fünfpfundnote umklammernd, die mir Tante Polly in die Hand gedrückt hatte – mit einem geflüsterten «Etwas von Onkel Vere und mir» –, in Richtung Treppe, in dem Augenblick, als die Kapelle «Die Stunde ist gekommen» spielte, und die Musik reichte in mich hinunter wie ein langer Löffel und rührte und rührte.
    Ich kam zu meiner Kabine mit den sechs Kojen; mein Liegeplatz war unten, neben der Tür. Ich war dem Rat derer gefolgt, die es besser wussten als ich, und hatte eine kleine ovale Flasche Lavendel-Riechsalz, eine kleine Dose Kekse und eine Tube
Kwells
gegen die Seekrankheit mitgebracht. Ich legte alles in eine verschließbare Lade, recht herablassend, da ich wusste, ich würde sie nicht brauchen. Ich spürte das Vibrieren der Motoren und die langsame Bewegung des Schiffes, als es aus dem Hafen von Wellington ausfuhr.
    «Es ist in Ordnung», dachte ich, und all meine Angst vor der Seekrankheit verschwand. «Meine erste Ozeanreise, und der Seegang ist ruhig.»
    Ich ging hinauf an Deck. Es war noch zu früh für den Auftritt von Passagieren, die tanzten und Abendkleidung trugen, aber irgendwo spielte Musik, und man hörte Reden und Lachen.
    Die Lichter von Wellington glänzten in der Ferne. Ich lehnte mich über das Geländer, und mir war nach Weinen zumute, vor Angst und vor Freude. Plötzlich änderte sich die Bewegung des Schiffes und wurde zu einem jäheren Steigen und Fallen und zu einem Schlingern: Wir waren auf dem offenen Meer. Meine Reise hatte begonnen.

Nachwort

 
     
     
     
    Ich besitze einen Brief von Janet Frame, geschrieben am 27. Oktober 1985, zum Teil von Hand, offenbar mit einem Füllhalter, zum Teil mit der Schreibmaschine. Die Handschrift ist groß, breit, nimmt sich Platz. Zu dem Zeitpunkt war die Autorin einundsechzig Jahre alt. Es ist ein mit roten und blauen schrägen Streifen umrahmter Luftpostbrief, leicht, frankiert mit drei relativ großen identischen Briefmarken, auf denen jeweils drei Engel abgebildet sind. Der Text darauf lautet:
Silent night, holy night. Christmas 1985.
Weihnachtsbriefmarken im Oktober? habe ich mich gefragt. Übrig geblieben von den letzten Weihnachten? Oder schon herausgegeben für die nächsten?
    In diesem Brief geht Janet Frame auf Fragen ein, die ich ihr als relativ junge Übersetzerin per Brief zu stellen wagte und die ihren Roman
Living In the Maniototo
betrafen, an dessen Übersetzung ich gerade arbeitete. Es war eine ganze Liste. Schließlich ist es eine lebende Autorin, sagte ich mir, weshalb sie also nicht um Rat fragen, vielleicht schreibt sie ja zurück? Das tat sie auch, und sie beantwortete jede meiner Fragen präzise und so ausführlich wie eben nötig. Ähnlich wie später bei der Arbeit an
An Angel At My Table
hatte ich gewisse Schwierigkeiten mit den Bezeichnungen aus der Natur, der Flora und Fauna Neuseelands, die sich von der Tier- und Pflanzenwelt hierzulande erheblich unterscheiden. Man darf nicht vergessen, dass man damals noch ohne das Internet übersetzte,also keinen so einfachen Zugang zum universellen enzyklopädischen Wissen hatte wie heute. Ich erinnere mich, dass ich die Absicht hatte, mich um ein staatliches Reisestipendium zu bewerben, das mir einen Aufenthalt in Neuseeland ermöglichen sollte, damit ich die Gegebenheiten sozusagen vor Ort studieren konnte. Weshalb ich es doch nicht getan habe, weiß ich nicht mehr.
    Einige Jahre später machte man mir den Vorschlag, Frames Autobiographie zu übersetzen. Ich las die drei Bände, herausgegeben vom Flamingo Verlag in London, und hatte sogleich das Gefühl, wie das bei Übersetzungsangeboten manchmal der Fall ist, dass dieses Buch nicht zufällig auf meinem Schreibtisch gelandet war. Ich fand nicht wenige Parallelen zu meiner eigenen Familiengeschichte: Mein Vater war
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