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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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dampfender, lauter Ort, nicht so gedrängt voll bei der Ankunft des Güterzuges am späten Nachmittag wie bei der des Invercargill-oder Lyttleton-Expresszuges, aber dennoch furchteinflößend und ehrfurchtgebietend: Ich war allein in meiner ersten Großstadt. In meinem Kopf tauchten drohend und verschwommen Weltstadtfiktionen auf, und Dunedin war eine von ihnen. Ich dachte an die «dunklen satanischen Mühlen», an Menschen, «eingesperrt wie Eichhörnchen»; an Feuersbrünsteund Pestepidemien und Zwangsrekrutierungen; und obwohl ich willens war, dem Beispiel der Schriftsteller zu folgen und die neue Stadt letztendlich zu «lieben», so, wie Charles Dickens, Hazlitt und Lamb ihr London geliebt hatten, konnte ich zunächst nur an die Einsamkeit denken, an die Armut, die ich zweifellos vorfinden würde, und daran, dass das Leben in der Großstadt mich vielleicht zerstören würde –
    In unserer Jugend sind wir Dichter voller Frohsinn;
    Doch schließlich enden wir verzweifelt und im Wahnsinn.
    Ich, die ich kaum den Kinderschuhen entwachsen war und Wordsworths «Ahnungen der Unsterblichkeit» auswendig kannte, hatte die Drohung darin ernst genommen –
    Sehr bald wird deine Seele ihre irdische Bürde tragen,
    Wird die Gewohnheit auf dir lasten mit einem Gewicht,
    So schwer wie Frost, und tief, fast wie das Leben!
    – in der Gewissheit, dass diese Drohung sich in einer Großstadt bewahrheiten würde: in Dunedin. Mein einziger Trost an jenem schrecklichen ersten Tag war die Aussicht auf mein neues Zuhause bei Tante Isy und Onkel George – Garden Terrace 4, ein lichterfüllter Ort mit einem terrassenförmig angelegten Garten mit Blick über die Buchten der Halbinsel und einem Zimmer mit dem gleichen Ausblick, mit hellen Kretonnevorhängen, einer dazu passenden Bettdecke und Bettwäsche wie für eine Prinzessin. Und ich würde die Pädagogische Hochschule und in meiner Freizeit die Universität besuchen und die Leute mit meiner Fantasie beeindrucken; alle würden in mir eine echte Dichterin sehen. Die praktischenDetails eines Dichterlebens waren mir noch nicht ganz klar, da es selbst für meine Fantasie zu viel war, den Übergang von der Fantasie zur Realität zu vollziehen – alle Dichter, mit denen ich mich beschäftigt hatte, waren beruhigenderweise tot, seit so langer Zeit, in so weit entfernten Ländern; doch auch wenn ich meine eigene Lebensform noch nicht gefunden hatte, waren es die Dichter, die mir auf meiner ersten Reise weg von zu Hause und von meiner Familie Gesellschaft leisteten.
    Mein Wissen über Tante Isy und Onkel George war begrenzt. Wie die meisten Verwandten und Erwachsenen betrachtete ich sie als «Respekt einflößend», als Menschen, die in einer völlig anderen Welt lebten, der anzugehören ich mir nicht vorstellen konnte – eine Welt des ständigen Redens über das Tun und Treiben unzähliger Verwandter und Bekannter, über Namen und Orte, alles ausgesprochen mit der Sicherheit der Besitzenden, dem Wissen, dass jeder sich an dem ihm bestimmten, richtigen Platz befand, und wenn nicht, dann gab es Fragen und Gerüchte, ebenso zahlreich wie die vorhergehende Zustimmung. Mir war Tante Isy nur als die ehemalige Tänzerin auf den alten Fotografien der beiden schönen Schwestern Isabella und Polly bekannt, die Schottenröcke trugen und denen das schwarze Haar in seidigen Strähnen bis auf die Hüften fiel; als die Tante, die Myrtle, Dads erstes Kind, auf allen Fotos, auf denen Mutter nicht abgebildet war, auf dem Arm hielt, sodass wir fragten: «Mum, war Myrtle Tante Isys Baby? Warum bist nicht du mit Myrtle fotografiert worden?»; als die nette Tante, die jedes Jahr zu Weihnachten ein Paket schickte und so in der Woche vor Weihnachten Anlass zu der besorgten Äußerung gab: «
Das Paket
ist noch nicht da!»; und neuerdings betrachtete ich Tante Isy als jemanden, der einenTantengeruch nach Mottenkugeln und Stoff verströmte und dunkle Farben trug und noch immer dort arbeitete, wo sie ihr Leben lang gearbeitet hatte, in der Roslyn-Fabrik, jetzt als Aufseherin; und die immer noch mit hoher Stimme sagte: «Lottie, Lottie, Middlemarch, Middlemarch.» Und ihren Ehemann, Onkel George, stellte ich mir als einen blassen Mann in einem grauen Mantel vor; ich glaube, er war Handelsreisender.
    Dunedin war halb verborgen im Nieselregen. Vom Bahnhof bis zur Carroll Street, einer Straße auf halber Höhe eines Hügels, war es nur eine kurze Fahrt mit dem Taxi, und da war auch schon Garden Terrace, und die Nummer
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