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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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Manieren der Studenten anzueignen, wohingegen die Professoren, die nicht so unnahbar waren wie die Erwachsenen, die ich bisher gekannt hatte, mich mit dem Einfühlungsvermögen erstaunten, mit dem sie unsere Gefühle erklärten und versuchten, uns mit der studentischen Rolle vertraut zu machen. Sie sprachen uns mit
Mister
und
Miss
, gelegentlich auch mit
Mistress
an, aber weil der Krieg noch nicht zu Ende war, gab es nur wenige Männer, die rasch von den schönen blonden Frauen mit Beschlag belegt waren, während die übrigen, darunter auch ich, überlebten, indem sie davon träumten, was sein könnte, und ihre Bewunderung auf die attraktivsten Professoren konzentrierten.
    Mein erstes Abenteuer mit der Selbstsicherheit hatte ich, als ich die neue Sprache hörte, die ich bald sprechen würde, der ich mich jedoch noch voll Ehrfurcht und Angst vor allzu vertrauten Bezugnahmen und Abkürzungen näherte. Während die anderen Studenten ganz zwanglos von
PH sprachen, von Uni
und
Party
(für Mr Partridge, den Direktor) und von
Teststunde,
brachte ich die Zauberworte noch nicht über die Lippen. Das allmähliche Erlernen der Ausdrucksweise, der Grundhaltung und der Gepflogenheiten in Benehmen und Kleidung rief in mir ein euphorisches Zugehörigkeitsgefühlhervor, das durch mein tatsächliches Gefühl der Isolation verstärkt wurde und dazu in Widerspruch stand. Während wir bei der Versammlung am Donnerstagmorgen auf das Erscheinen des Lehrkörpers und auf Party warteten, begannen die Studenten des zweiten Jahrgangs, «ihr» Lied zu singen, welches bald «unseres» sein sollte. Angesichts der Tragweite des Anlasses ging mir das Herz auf, als die Studenten des zweiten Jahrgangs sangen:
    O, der Pfarrer ging runter
    O, der Pfarrer ging runter
    in den Keller zum Beten
    soff sich sternhagelvoll
    blieb den ganzen Tag (blieb den ganzen Tag)
    O, der Pfarrer ging runter
    in den Keller zum Beten
    soff sich sternhagelvoll
    blieb den ganzen Tag,
    O, ich mach dem Herrgott keinen Kummer mehr …
     
    O, der Teufel, der hat (O, der Teufel, der hat)
    einen Pferdefuß …
    Und willst du in der Hölle schmoren
    Dann verschließ vor Gottes Wünschen deine Ohren …
    Ich empfand das fröhliche Singen als genauso ergreifend wie jene Stelle aus dem
Messias
, die jedes Jahr zu Weihnachten von jedem Chor gesungen wird und auch denen sehr vertraut ist, die keinen direkten Bezug zu dieser Art von Musik haben. Die Vorstellung, dass auch ich bald «O, der Pfarrer ging runter» singen würde (inzwischen hatten auch schon einige der Studentendes ersten Studienjahres in den Refrain eingestimmt), erschien mir wie eine Verheißung des Himmels. Alle lachten und redeten und waren ganz aufgeregt, und überall wurde die neue Sprache mit solch machtvoller Überzeugung gesprochen!
    Als dann Party und der Lehrkörper erschienen, hörte das Singen auf, und alle, sogar die Lehrer, sahen so selbstzufrieden aus, als teilten sie ein ungeheures Geheimnis miteinander, als wäre das Studentenleben das allerglücklichste.
    Später sah ich zwei ehemalige Schülerinnen aus Waitaki, Katherine Bradley und Rona Pinder.
    «Die PH macht Spaß», sagten sie.
    Ich stimmte zu. «Ja, nicht wahr?»
    Ich hatte vor, mit einem Stipendium des Unterrichtsministeriums an der Universität Englisch und Französisch zu studieren, und wurde in der ersten Woche von Mr Partridge dazu befragt, der auch Pädagogik unterrichtete. Ich habe ihn als einen kleinen, adretten, dunklen Mann in einem dunklen Anzug in Erinnerung. Seine Aura der Macht rührte von seiner Rolle als Direktor her, als der er, wie ich gehört hatte, Notizzettel mit der Aufforderung zu einer Unterredung ans schwarze Brett heftete, und niemand wusste – obwohl manche es ahnten –, ob eine «Notiz von Party» Lob oder Tadel zur Folge haben würde.
    Mr Partridge erkundigte sich nach meiner Unterkunft.
    «Wohnen Sie in einem Studentenheim?»
    «Ich wohne bei einer Tante und einem Onkel.»
    Er blickte missbilligend.
    «Es ist nicht immer günstig, bei Verwandten zu wohnen.»
    «Ach, ich komme gut aus mit meiner Tante und meinem Onkel. Und ich zahle nur zehn Shilling für Kost und Logis.»
    «Wo wohnen Sie?»
    «Garden Terrace 4, Carroll Street.»
    Wieder blickte er missbilligend.
    «Carroll Street? Das ist keine sehr nette Gegend.»
    Ich wusste, dass die Carroll Street nur zwei Straßen von der berüchtigten McLaggan Street entfernt war, wo angeblich Prostituierte wohnten und die Chinesen in ihren «Opiumhöhlen» Opium rauchten, aber
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