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Sabihas Lied

Sabihas Lied

Titel: Sabihas Lied
Autoren: Alex Miller
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A ls wir in den siebziger Jahren in dieses Viertel zogen, gab es neben dem Getränkeladen eine Reinigung. Sie wurde von einem maltesischen Ehepaar geführt, Andrea und Tumas Galasso, mit dem wir uns ein wenig anfreundeten, meine Frau und ich. Vor ein paar Jahren gaben die Galassos ihre Reinigung auf. Ohne ein Wort der Erklärung. Kein Schild an der Tür kündete vom Bedauern, den Kunden Unannehmlichkeiten zu bereiten, nichts wies darauf hin, dass der Betrieb bald wieder aufgenommen werden würde. Die Geschäftsräume, die so viele Jahre als Reinigung gedient hatten, blieben lange Zeit verwaist, während sich im Eingang Werbezettel und Mahnungen türmten.
    Ich wohne mit meiner Tochter zusammen. Sie ist achtunddreißig. Als ihre Ehe in die Brüche ging, hat sie sich zu mir geflüchtet. Zunächst wollte sie nur eine oder zwei Wochen bleiben, bis sie sich wieder gesammelt hatte. Das ist jetzt fünf Jahre her. Den letzten australischen Winter verbrachte ich in Venedig und fand bei meiner Rückkehr einen leeren Kühlschrank vor. Ich weiß nicht, warum Clare keine Lebensmittel kauft, als erfolgreiche Designerin verdient sie eine Menge Geld, daran liegt es also nicht. Wenn ich sie darauf anspreche, lautet ihre Antwort, dass sie sehr wohl Lebensmittel einkaufe. Tut sie aber nicht. Wo sollen sie sein? Vom Flughafen aus nahm ich ein Taxi, kam nach Hause, und im Kühlschrank gab es nicht einmal Milch. Durch den unendlich langen Flug war ich so erschöpft, dass ich wohl etwas zu schroff reagiert habe. Clare ist sogar noch näher am Wasser gebaut als ihre Mutter früher. Ich entschuldigte mich, und sie weinte aufs Neue. »Schon gut, Dad. Ich weiß ja, dass du es nicht so meinst.« Sie ist mir ein Rätsel.
    Trotz unserer gewaltigen modernen Passagierflugzeuge liegt Venedig immer noch Welten von Melbourne entfernt. Man muss sich erst eingewöhnen. Venedig und Melbourne sind nicht auf demselben Planeten. Egal wie schnell oder wie bequem und entspannt wir dorthin fliegen, bleibt Venedig Melbourne so fern wie zur Zeit der Dogen. Hier war es inzwischen Frühling, aber mir erschien alles dürr und karg. Zu Hause fand ich einen leeren Kühlschrank vor. Ich erinnere mich ganz genau. Ich konnte mir nicht einmal eine Tasse Tee machen. Und so ging ich, keine zwei Minuten nachdem ich aus dem Taxi gestiegen war, wieder raus, um einzukaufen.
    Als ich beim Getränkeladen um die Ecke bog, wusste ich noch nicht so recht, ob ich froh war, wieder daheim zu sein, oder traurig, weil ich nicht ein paar Monate länger in Venedig geblieben war. Oder ein paar Jahre. Oder für immer. Warum eigentlich nicht? Dann lief ich an der ehemaligen Reinigung vorbei und fragte mich gerade bedrückt, warum ich überhaupt zurückgekehrt war, als mir der köstliche Duft von ofenfrischem Gebäck in die Nase stieg. Zwanzig Jahre lang hatten wir auf dem Weg zu anderen Läden das Geschäft der Galassos passiert und dabei die chemischen Reinigungsmittel gerochen. Ich blieb stehen und warf einen Blick durch die offene Ladentür. Eine Neueröffnung. Wahrscheinlich habe ich gelächelt. So eine schöne Überraschung. Die Frau hinter dem Ladentisch fing meinen Blick auf und erwiderte mein Lächeln, als freute sie sich darüber, dass draußen ein Unbekannter ihren ansprechenden Laden bewunderte. Es war Samstagmorgen, die Kunden drängten sich nur so, und sie hatte alle Hände voll zu tun, so dass unser stummer Austausch im Nu vorbei war. Dennoch heiterte mich ihr Lächeln merklich auf, und als ich meinen Weg fortsetzte, war ich doch froh, wieder hier zu sein, anstatt den Rest meines Lebens in Venedig zu verbringen.
    Venedig bringt meine melancholische Ader zum Vorschein, weckt in mir die unerschütterliche Überzeugung, dass jedes Bemühen vergeblich ist. Geht es nicht allen so? Wenn ich in dieser zeitlosen Stadt umherlaufe, fühle ich mich wie der unberührbare Victor Maskell. Womit ich im Grunde gar nicht hadere. Ich habe diese Anwandlungen von Schwermut immer genossen. Keine Ahnung, woher das kommt. Es liegt wohl an meiner Familie väterlicherseits, am düsteren schottischen Einschlag, so hat man es mir jedenfalls erklärt. Ich bin nie in Schottland gewesen. Als ich an diesem staubtrockenen Frühlingsmorgen die Supermarktgänge durchstreifte, war die Schwermut wie weggewischt, und der warmherzige Blick der schönen, ziemlich exotisch wirkenden Frau in der
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