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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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anderen gehört, die Umwege über den mit Gebüsch bewachsenen Stadtgürtel machten, um ihre Binden loszuwerden; und von einer Frau, die ihre erste Woche in einem Studentenwohnheim im Dunkeln verbrachte, weil sie zu schüchtern war, um zu bitten, man möge die Glühbirne auswechseln, und kein Geld hatte, um eine zu kaufen. Unser Leben war zerbrechlich, voller Qualen der Verlegenheit und Enttäuschung, voll missglückter Kommunikation, doch auch voll intensiver Gefühle des Staunens über die Flut von Ideen, ausgelöst durch Bücher, Musik, bildende Kunst und andere Menschen; es war eine Zeit, in der wir Zuflucht fanden bei den mit riesigen Anfangsbuchstaben versehenen Abstraktionen
Liebe, Leben, Zeit, Alter, Jugend, Fantasie.
    Der Südfriedhof, wo ich meinen peinlichen Abfall wegwarf, war mein Lieblingsort. Ich war zu schüchtern, um mich zu Tante Isy ins kleine Speisezimmer neben den Ofen zu setzen, und wenn der Anblick der Ziegelmauern und trostlosenHinterhöfe mit ihren überquellenden Mülleimern allzu bedrückend wurde, stieg ich auf den Hügel, saß im langen Gras oder auf einem der ummauerten Gräber und blickte über meine neue Stadt – auf Caversham und das graue Gebäude aus Stein, das aussah wie ein Armenhaus und das ich anfangs für die
Anstalt für verwahrloste Kinder
hielt, das aber, wie ich später herausfand,
Parkside
war, ein Altersheim; auf das an der Bahnlinie gelegene Ende des Carisbrook-Fußballfeldes, den Sportplatz mit seinen Regenpfützen und Möwen an den Wochentagen; das dicht besiedelte, ärmliche, überschwemmungsgefährdete St. Kilda, wo ich die ersten sechs Wochen meines Lebens verbracht hatte. Ich blickte auch über die Halbinsel und den Hafen und weiter hinaus auf das offene Meer, den Pazifik,
meinen
Pazifik.
    Mein
Pazifik,
meine
Stadt: Auf meine Weise gewann ich Freunde. Wenn ich unter den alten Toten des alten Dunedin saß (denn die neuen Toten hatten einen eigenen Platz, eine Landzunge mit Blick über das Meer in Anderson’s Bay), verdiente – oder stahl – ich mir ein wenig von ihrem Frieden, dort im sich sanft wiegenden langen Gras zwischen dem Bärlauch und den wilden Wicken und dem Huflattich mit den tief reichenden Wurzeln, die Teil der Friedhöfe waren, das Zubehör der Eisenbahnlinien wie der Toten. Manchmal verfasste ich ein Gedicht, das ich später, wenn ich in die Garden Terrace zurückkam, niederschrieb. Und wenn ich an der Telefonzelle am oberen Ende der Straße vorüberging, schien es plötzlich, als wäre die Gesellschaft der Toten nicht genug, und eines Abends rief ich Miss Macaulay von der Schule in Waitaki an, die nun im Ruhestand war und mit ihrer betagten Mutter in St. Clair lebte. Als sie sich meldete, merkte ich, dass ich nichts zu sagen hatte; trotzdem hielt ich den Hörer umklammertund warf in Abständen von drei Minuten einen Penny nach dem anderen ein. Während der ersten Monate meines Aufenthalts in Dunedin rief ich mehrmals an. Diese Gewohnheit fand eines Abends ein abruptes Ende, als Miss Macaulay sagte: «Du hast einen ganzen Shilling ausgegeben, Jean!»
    Mir war nicht bewusst gewesen, dass sie es hören konnte, wenn ich die Münzen einwarf. Ich starb beinahe vor Scham. Ich wagte es nicht, mein Gefühl der Einsamkeit zuzugeben. Immer wieder hatte ich gesagt, wie schön es an der Pädagogischen Hochschule und an der Universität sei. Und die Französischvorlesungen? (Miss Macaulay hatte Englisch und Französisch unterrichtet.) O ja, die genoss ich sehr! Das stimmte – sowohl die Englisch- als auch die Französischvorlesungen hielten mich in meinem neuen Leben als werdende Lehrerin aufrecht. Ich rief nicht mehr in St. Clair an.
    Einige Wochen später nahmen Katherine Bradley, Rona Pinder und ich, drei von Miss Macaulays «ehemaligen Mädchen», eine Einladung zum Nachmittagstee bei ihr zu Hause an. Wir tranken Tee und aßen Schokoladentorte mit Schokoladenglasur in einem Haus, das ausgepolstert war mit Kissen und dunklen Möbeln: ein ganz normales Haus. Wir redeten über das Studium und tauschten Grußworte mit der alten Mrs Macaulay, stets des «Schattens» gewärtig, der zwischen «Ideal und Wirklichkeit» fiel. Ich hatte gedacht, unsere Lehrerin würde sich auch im Ruhestand noch mit dem Studium der französischen und englischen Literatur beschäftigen, vielleicht sogar Essays darüber schreiben. Unsere Konversation war nicht sehr erhellend. Mir ging der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass unser ganzer Schulunterricht nur Schein gewesen war, dass die
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