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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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hinauf ins Bett; eventuell rief sie dann noch herunter: «Jean, sei bitte so lieb und lauf zu Joe dem Syrer um eine Tube Lanolin.»
    Und wieder einmal holte ich die blauweiße Tube Lanolin.
    «Wie geht es Onkel George denn?», fragte Mutter. (Ich hatte angefangen, Mum «Mutter» zu nennen, zum Zeichen, dass ich erwachsen wurde.)
    «Das weiß ich eigentlich gar nicht», sagte ich. «Manchmal geht er spazieren. Keiner erwähnt seine Krankheit.»
    Ich wusste, dass sie so taten, als wäre er nicht krank. Ich hasste diese Heuchelei. Ich hasste es, zu Hause zu sein, denn ich hatte das Gefühl, dass ich mein Zuhause für immer verlassen hatte und bis auf gelegentliche Besuche auch nie mehr zurückkehren würde. Ich sah so klar, wie verstrickt meine Familie in ein verhängnisvolles Geschick war, dass es mir Angst machte. Ich hatte den Eindruck, dass meine Mutter in einerWelt lebte, die in keiner Weise mit der «wirklichen» Welt übereinstimmte, und jedes ihrer Worte schien mir eine Verheimlichung, eine Lüge, eine verzweifelte Weigerung zu sein, die «Wirklichkeit» anzuerkennen. Ich war mir nicht einmal bewusst, dass ich selbst in die Welt der Heuchelei eingetreten war, was ich bei anderen so verurteilte.
    Ich konnte in meinem Vater einen hilflosen Menschen sehen, der versuchte, sich den stürmischen Winden einer grausamen Welt entgegenzustemmen. Im Geiste konnte ich sehen, wie er mit dem Fahrrad die steile Eden Street hinauffuhr, den Körper nach vornübergebeugt, entschlossen, nicht vor dem Hügel zu kapitulieren und auch nicht vor dem Gegenwind, der geradewegs aus dem Schnee kam, aus dem Landesinneren, «von Hakataramea her», und hin zu den Südalpen wehte. Ich sah meinen Bruder mit seinem frischen Aussehen und den braunen Haaren, die in die Höhe standen wie Onkel Bobs Haare, und dem Mund, der zitterte wegen all der Tränen, die er geweint hatte in seiner Hilflosigkeit gegenüber seinem Angreifer. Und meine Schwestern – Isabel, die in ihrem Wesen Myrtle immer ähnlicher wurde, trotzig, wagemutig, eine Rebellin und der Liebling aller; und June mit dem blauen Gürtel von Wilson House, der irgendwie zu ihrem stillen Charakter passte, voll vager Dichtung und Musik. Sie teilte am ehesten meinen literarischen Geschmack und verstand mein Grübeln über die großen Abstraktionen – die ganze Familie war Teil des gemeinsamen und, wie ich erkannte, unwiederbringlich verlorenen «Wir». Ich versuchte das Wort «wir» zu verwenden, wenn ich über mein Leben als Studentin sprach, aber ich wusste, dass es zwecklos war, wenn ich beschrieb, was «sie», die Studenten, taten, wo sie hingingen, was sie empfanden, was sie sagten; und um zu überleben,musste ich mein «Ich» verbergen, das, was ich wirklich fühlte, dachte und träumte. Ich hatte mich von der ersten Person Plural hin zu einem schemenhaften «Ich» bewegt – fast ein Nichts, wie ein Niemandsland.
    Ich wurde «Studentin» genannt, «eine von denen», über die sich die Öffentlichkeit von Dunedin beschwerte und die von den Professoren liebevoll oder tadelnd mit «Ach, ihr Studenten!» angesprochen oder von den Verwandten stolz als «eine Studentin, wissen Sie» erwähnt wurden. Da ich die Begeisterung und das Vergnügen meiner Kommilitonen bei all ihren Aktivitäten spürte – Theaterspielen, Sport, Debattieren, Tanzen, «Ausgehen» mit dem anderen Geschlecht –, schnappte ich fast über vor Aufregung, wenn ich das Studentenleben betrachtete. Ich muss ein Vermögen an überwältigtem Staunen durchgebracht haben, einfach in dem Wissen, dass ich
dabei
war; und nur wenige Erlebnisse reichten an meine Freude heran, die Universität zu besuchen, die ich hauptsächlich aus der Perspektive der englischen Literatur wahrnahm – Gregor Cameron war doch sicherlich der Grammatiker aus dem Gedicht «Begräbnis eines Grammatikers»?
    Hier – hier ist sein Ort, wo Meteore rasen, wo sich Wolken formen,
    Wo Blitze sich vom Himmel lösen
    Und Sterne entstehen und vergehen! Freude soll
    ausbrechen mit dem Sturm,
    Der Tau soll Frieden senden!
    Erhabene Entwürfe müssen näher rücken wie Wirkungen;
    Erhaben hingestreckt,
    Verlasst ihr ihn – erhabener noch, als die Welt ahnt,
    Im Leben und im Sterben.
    Gregor Cameron ahnte nicht, dass er, vertieft in «Beowulf» und «Peter der Pflüger», als Brownings «Grammatiker» auf dem Podium in Lower Oliver, dem Englisch-Hörsaal, stand – als «unser Meister, ruhmreich, gelassen und tot».
    Alles war ungeheuer schnell, schonungslos;
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