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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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Besitz von Onkel George durch seine Verlegung auf Nummer fünf beigelegt war.
    Auf das große Bett im Nebenzimmer wurde eine neue frühlingshelle Bettdecke gebreitet, und der Mülleimer, in den ich immer heimlich Schokoladenpapier und Binden warf, war zum Bersten voll mit den wohlbekannten blauweißen leeren Tuben.
    Tante Isy sprach noch immer nicht über seine Krankheit und seinen Tod. Sie nahm nur kurz Urlaub, ein oder zwei Tage, um das Haus in Ordnung zu bringen und ein Bündel Bettwäsche zu waschen oder zu verbrennen. Manchmal lag in ihrer Miene und in ihrem Blick etwas Düsteres, wie ein Schmerz, bei dem keine Tränen vergossen werden. Aber sie sprach noch immer von
Middlemarch
und legte von neuem ihr ganzes Gefühl hinein, das sich nun auf nichts anderes mehr richten konnte.

4
Und wieder «Ein Land voller Flüsse»
    Ich hielt den weiter andauernden Krieg auf die Literatur der Moderne beschränkt, und wenn ein neuer Student ankam, ein wenig älter, hinkend, mit nur einem Bein oder einem Arm, dann betrachtete ich ihn aus dem sicheren Abstand des Mythos als den «alten Soldaten, heimgekehrt aus dem Krieg». Ich tauchte blinzelnd aus dem Halbdunkel Dostojewskis auf, aus der sternen- und himmelerfüllten Größe von Thomas Hardys Welt, in der die isolierende, bedrückende, gleichgültige Hand des Schicksals schwer auf jeder Figur lastet, also aus der Welt der Schriftsteller, die tot waren, und merkte plötzlich, dass es Schriftsteller gab, die erst seit kurzem tot waren oder mitten im Krieg lebten und schrieben. Ich las James Joyce, Virginia Woolf, die Gedichte von Auden, Barker, MacNeice, Laura Riding (wobei mir nicht entging, dass sie die Frau von Robert Graves gewesen war) und – Dylan Thomas, damals zweifellos der Held eines jeden Studenten, der Gedichte las oder schrieb. Ich kaufte mir die Gedichte von Sydney Keyes und verbrachte viel Zeit damit, sein Foto zu betrachten und seinen frühen Tod zu betrauern. Wie einen Schatz hütete ich ein schmales Bändchen von T. S. Eliot, eine umfangreiche Anthologie mit dem Titel
Lyrisches London
mit Zeichnungen von Henry Moore und Texten von Henry Miller, und das Buch
Kriegsdichtung
, in dem ich, abgeschottet von unseren eigenen Verlustlisten und dem Tod junger Männer, die wir in Oamaru gekannt hatten, Brüder oder Söhne der Nachbarn, inmittender Luftangriffe auf London lebte, mitten im Alltag der Feuerposten und der Luftschutzwarte – viele Gedichte waren «während der Brandwache» entstanden. Ich kannte Audens Gedicht «1. September 1939» auswendig, auch Gedichte über die «Vier Jahreszeiten des Krieges» und die «Wehklage» von Lynette Roberts:
    Fünf Hügel wankten, vier Häuser fielen
    am Tag des Angriffs, dessen ich mich so gut entsinne.
    Augen glänzten wie starre, angeschlagene Schalen,
    die Lebenden lagen im Blut, die Toten in ihren Qualen.
    Tot wie der Frost, der die Hecke zerstört,
    tot wie Erdreich, das den Mut verliert.
    Tot wie Bäume, die zittern vor Schreck
    vor dem heißen Tod aus der Luft.
    Es gab eine nationale Unternehmung, die sich
Kriegsanstrengungen
nannte und die auch mein Leben berührte, da von allen erwartet wurde, dass sie sich beteiligten. Im Sommer jenes Jahres wurde ich mit anderen Studenten auf die Whittaker-Farm in Millers Flat, Central Otago, geschickt, um Himbeeren zu pflücken. Ich war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, «Up Central», ins Landesinnere, zu fahren, an den Ort, der mir im Kopf herumspukte, seit ich ein kleines Kind war, und den ich mir als hohe Leiter mit schmalen Sprossen vorgestellt hatte, auf der Tanten und Onkel auf einer Seite bis in die Wolken kletterten, wo sie übers Wochenende oder länger blieben und dann herunterkamen und höchst befriedigt sagten: «Ich war
Up Central

    In Wirklichkeit war es eine Fahrt in einem alten Bus auf staubigen Straßen durch eine Mondlandschaft aus kahlen,verbrannten Hügeln, die sich fast senkrecht aus den Tälern erhoben, bis zu einer fruchtbaren Ebene am Ufer eines tosenden grünen Flusses mit weißen Schaumkronen, der dort Molyneux genannt wurde, doch weiter flussabwärts dann Clutha. Gleich bei meinem ersten Blick auf diesen Fluss hatte ich das Gefühl, dass er ein Teil meines Lebens war (wie raffgierig ich die Besonderheiten des Landes als «Teil meines Lebens» beanspruchte!), von seiner Quelle im Schnee des Hochlandes (wir waren fast im Hochland) durch all seine Stadien ungestümer Wildheit und – angeblich mancherorts existierender – Friedfertigkeit hindurch bis
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