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Im Schneeregen

Im Schneeregen

Titel: Im Schneeregen
Autoren: Thomas Schenk
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Das haben Sie davon, hatte Gruber gesagt, stundenlang in diesem Wald zu sitzen, an eine Tanne gelehnt, das machen die Bronchien nicht mit. Soll sich verloren haben, Schwitter, vom Weg abgekommen und auf eine abschüssige Bahn geraten sein. In einer Mulde kam er zur Ruhe. Die Wolken ließen sich mit den Fingern berühren, sie hatten sich im Haar verfangen, es schwer werden lassen. Seine Zirkulation, das war von Anfang an klar, würde dem Wetter nicht standhalten. Aber jetzt fühlte er sich gut, er hatte sogar die Kapuze zurückschlagen müssen, so warm war ihm. Dasitzen und schauen. Der Boden zerfurcht, überall kleine Öffnungen, in die Schwitter eindringen wollte, um die Tiere zu beobachten, die in den Gängen lebten unter ihm. Die gesunde Luft atmen, mit der sie versorgt wurden, er konnte sie riechen, ruhig und gleichmäßig strömte sie ins Erdinnere, dort im Dunkeln verharrte die Luft einen Augenblick, bevor sie ebenso ruhig wieder ausströmte. Und all die Bäume, wie aufrecht sie standen, er musste nach ihren starken Stämmen tasten, über Rinde streichen, den Widerstand der Borke spüren. In Furchen drang er und in Spalten, seine Finger stauten das Wasser, das sich auf den Verästelungen niedergelassen hatte und nun zu den Wurzeln strebte. Scharf und deutlich war alles, als wäre es eben erschaffen worden. Er war es, der es erschaffen hatte. Haushohe Bäume hatte er aufgerichtet aus eigener Kraft, mit den Handflächen die Kronen gerundet, Wurzelkanäle gebohrt mit bloßen Fingern.
    Schnee und Regen ließen sich nieder, und Schwitter saß da und schaute. Jede Flocke vermochte er wahrzunehmen und jeden Tropfen, so langsam ging das vor sich. Das Wetter ließ ihm Zeit. Wie ungleich sie doch waren, verspielt der Schnee, geradlinig und atemlos der Regen, und doch in einer Art Tanz vereinigt, harmonisch und, ja, von einer Leichtigkeit, die sich festsetzte im Gedächtnis. Nicht einmal die Hände brauchte er auszustrecken, um das Glück zu befühlen. Er sah, wie ein Schneekristall sich zärtlich auf einen Tannenarm legte, und schon schlug sein Herz stärker, der ganze Körper pulsierte. Und wenn ein Regentropfen auf eine der Wurzeln traf, die den Boden wie Adern überzogen, drang die Erschütterung bis in sein Rückenmark. So saß er da, Hemd und Hose mit Wasser vollgesogen.
    Im Schneeregen, sagte Schwitter zu Gruber, sind mir Tränen gekommen. Jahrelang war die Drüse verhockt gewesen, und hier, hart an der Schneefallgrenze, löste sich das Augenwasser. Nein, nicht aus Verzweiflung darüber, sich verlaufen zu haben, auch nicht wegen der Kälte. Es war dieses Stechen im Hals, immer stärker wurde es, doch statt dass er aufschrie vor Erregung, überliefen ihm die Augen. Stoßartig flossen sie anfangs, die Tränen, sie mussten sich den Weg erst bahnen, durch Sedimente und Krusten dringen. Bodensatz wurde abgetragen, Hindernisse unterspült, bis es ruhig strömte nach einer Weile. Endlich war das Tränenbett ausgewaschen, es plätscherte und gurgelte, keine Schreie, kein hastiges Schnappen mehr nach Luft, leise und flach ging der Atem, so wie im Schlaf. Er lag im Wald, leicht und frei, über sich nur Schnee und Regen, Wattebäusche und durchscheinende Kugeln, zu einem riesigen Mobile verbunden mit feinstem Nylonfaden. Die Atmosphäre weinte sich aus, und er war Zeuge, schloss sich der Reinigung gleich an, tat seine Tränen dazu, das Wasser kam zusammen, schwemmte Gräben weg und alles, was hätte erzählen können von früher.
    Aber wie kann ein erwachsener Mensch in eine solche Lage geraten? Er las die Frage in Grubers Augen, doch noch bevor er antwortete, legte sich sein Bettnachbar auf den Rücken. Länger als eine Viertelstunde gelang es ihm nicht, wach zu bleiben. Schwitter ließ ihn dösen, sie würden, dachte er, noch genügend Zeit haben miteinander. Dass sie Gruber so plötzlich holten, war nicht vorauszusehen. Jetzt steht die Mineralwasserflasche unnütz auf dem Nachttisch, das Bett ist leer. Immerhin, denkt Schwitter, haben sie es noch nicht frisch bezogen. Vielleicht bringen sie Gruber noch einmal zurück.
    Die Aufforderung, die von der bereitgelegten Klinge ausgeht, ist unmissverständlich. Selbst wenn nur ein paar Stoppeln zu sehen sind, die Rasur muss sein. Noch einmal verstreicht Schwitter die weiße Masse. Er atmet schwer. Um nichts vom Schaum in den Mund zu kriegen, presst er die Lippen aufeinander. Schon eine ganze Weile zieht er die Luft durch die Nase. Die Nasenflügel wirken kalt und, das ist ihm
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