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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
Autoren: C.H.Beck
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vier, das vierte kleine Ziegelhaus in einer aneinandergebauten Gruppe von sechs Häusern, deren Hinter- und Vordertüren über zwei enge, von der Carroll Street abzweigende Gässchen erreichbar waren. Überall waren Ziegel- und Betongebäude, hohe Schornsteine, die hintereinander in den Himmel ragten, graue Straßen, ein Bild, wie ich es in meiner Vorstellung von einer Großstadt im Geiste schon gesehen hatte. Irgendwo weiter östlich war das Meer, das mich treu vom Königreich Oamaru bis hierher begleitet hatte.
    Tante Isy (nach Tante riechend) umarmte mich an der Tür. Sie roch nach ganzen Schränken voller Kleider aus Stoffen wie Voile, Jerseyseide, Serge, Crêpe-de-Chine.
    «Ach Jean, wir freuen uns so, dass du bei uns wohnst. Wir sind alle so stolz darauf, dass du Lehrerin wirst. Wenn die Auszeichnungen in der Schule verliehen werden, suchen wir in der Zeitung immer nach deinem Namen; auch nach den anderen Mädchen. Was für eine gescheite Familie!»
    Ich stand da und lächelte mein schüchternes Lächeln mit leicht zusammengepressten Lippen, weil meine Vorderzähnesich mittlerweile im letzten Stadium des Verfalls befanden, da die Krankenkasse nach der Grundschule nicht mehr für Zahnbehandlungen aufkam und meine Familie nicht das Geld hatte, einen Zahnarzt zu bezahlen.
    Tante Isys Schwägerinnen Molly und Elsie, die nebenan auf Nummer fünf wohnten und mir als Tante Molly (die Radiotante) und Tante Elsie bekannt waren, kamen, um mich zu begrüßen.
    «Das ist also Jean, und du willst Lehrerin werden?»
    «Ja.»
    Das Haus war wie ein großes Puppenhaus, mit einer winzigen Spülküche mit einem Ausgussbecken gleich neben der Hintertür, einem Wohn-Ess-Zimmer daneben, das «Zimmerchen» genannt wurde und von einem schmalen Korridor abging, sowie einem weiteren etwas größeren Zimmer, der «guten Stube» gleich neben der Vordertür. Im ersten Stock gab es zwei Schlafzimmer, beide klein. Das Badezimmer war unten in der Waschküche, in die man von der Spülküche aus gelangte.
    «Dein Zimmer ist hier oben», sagte Tante Isy, «am oberen Ende der Treppe.»
    Als wir die Treppe hinaufgingen, wandte sie sich nach rechts zu dem Zimmer, in dem sie und Onkel George schliefen.
    «Onkel George ist im Bett», erklärte sie. «Möchtest du ihm guten Tag sagen?»
    Ich wusste, dass Onkel George Krebs hatte. Ich stellte mich ans Fußende des Bettes.
    «George, Jean möchte dir guten Tag sagen.»
    «Guten Tag, Onkel George.»
    «Du bist also die, die Lehrerin werden will?»
    Mir fiel die graue Blässe seines Gesichts mit der weich aussehenden Haut auf, wie tote Haut, und ich fragte mich, was für ein schrecklicher Anblick sich unter der Bettwäsche verbarg. Es roch fettig nach Lanolin, und auf dem Toilettentisch lag eine Reihe blauweißer leerer Lanolintuben, einige davon ausgedrückt und aufgerollt. Da ich auf sexuellem Gebiet ebenso neugierig wie unwissend war, fragte ich mich, ob das Lanolin etwas «damit» zu tun hatte, und ich fragte mich, ob Tante Isy und Onkel George «es miteinander machten».
    Vielleicht konnte man nicht, wenn man Krebs hatte?
    «Er verbringt jetzt die meiste Zeit im Bett», sagte Tante Isy, während wir hinuntergingen, um Tee zu trinken.
    Später saß ich auf meinem Bett in meinem winzigen Zimmer und blickte hinaus über Ziegelwände und Gebäude mit hohen Schornsteinen, so weit das Auge reichte. Wenn ich mich aus dem Fenster beugte, konnte ich innerhalb des Gartentors, das zum Gässchen führte, den kleinen Garten sehen, in dem Geranien blühten, die ich bisher nicht als Großstadtblumen betrachtet hatte; sie waren staubig, und ihr flammend roter Samt war mit Ruß bedeckt. Als mir bewusst wurde, dass ich allein in meiner ersten grauen Großstadt war, empfand ich ein Gefühl der Vorfreude und Erregung; dann wich diese Erregung allmählich der Angst. So war es also, Auge in Auge mit der Zukunft – ich war allein, hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, fürchtete mich vor der Stadt und vor der Pädagogischen Hochschule und vor dem Unterrichten und musste so tun, als wäre ich nicht allein, als gäbe es viele Leute, mit denen ich reden konnte, als fühlte ich mich in Dunedin zu Hause und als hätte ich mich mein ganzes Leben nach dem Unterrichten gesehnt.

3
Die Studentin
    Meine erste Woche an der Pädagogischen Hochschule in Dunedin war weniger schlimm, als ich es mir vorgestellt hatte, da ich all das Neue mit vielen anderen teilte, alle ängstlich, alle bemüht, sich schnell die selbstsicheren
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